Kolumne

Von der Schweiz und den Schatten des Lebens

PD
Von PD
So ähnlich könnte es ausgesehen haben.

Foto: Foto: zvg/Police cantonal vaudoise

Einfach erklärt

Marmar Ghorbani lebt seit 2017 in Bern West. Sie stammt aus Persien, dem heutigen Iran. Sie schreibt hier über Alltagssituationen, die sie berühren, irritieren und auch mal schmunzeln lassen.

Kolumnistin Marmar Ghorbani erzählt von einer Begegnung mit der Polizei im Waadtland. Wegen mangelnder Französischkenntnissen waren der Kommunikation anfänglich einige Steine in den Weg gelegt. Schlussendlich ging es glimpflich aus.

Es war ein dunkler Nachmittag im Dezember. Ich fuhr auf der A1-Autobahn zwischen Lausanne und Bern nach Hause. Es gab einen grossen Stau. Alle fuhren mit etwa 10 km/h und hielten immer wieder an. Plötzlich gab es keine Verbindung mehr zwischen meinem Handy und dem Auto. Ich versuchte, diese wiederherzustellen und bemerkte dabei nicht, dass ein Polizeiauto auf der anderen Spur fuhr. Als ich das Polizeiauto vor mir sah, blinkte das französische Wort «Suivre» auf. Ich konnte kein Französisch, also dachte ich, dass das häufigste Wort, das die Polizei verwendet,  «Stopp» wäre. Ich hielt an und wartete. Das Polizeiauto hielt ebenfalls an und blieb stehen. Ich wusste nicht, wer auf wen zugehen sollte. Ich fühlte mich nicht gut. Mein Kopf war voll von schlechten Nachrichten aus meinem Heimatland. Von der Polizei auf der Strasse angehalten zu werden, schien das geringste Problem der Welt zu sein.

Nach einigen langen Minuten kamen zwei Polizisten zu meinem Auto. Einer der Polizisten sagte etwas auf Französisch. Ich entschuldigte mich, dass ich kein Französisch spreche. Dann fragte er in schlechtem Deutsch: «Warum haben Sie angehalten? Haben Sie ‹Suivre› nicht gesehen?» Ich wusste nicht, ob er wegen meines Verhaltens wütend war oder weil sein Deutsch nicht gut genug war, um seine Autorität zu wahren. Ich sagte: «Aber ich verstehe kein Französisch.» Meine Stimme zitterte – nicht, weil ich von der Polizei angehalten worden war, sondern wegen den schlechten Nachrichten aus meinem Heimatland. Die Polizistin nebenan sagte dann freundlich: «You were using your mobile phone while driving; that is against the rules.» (Sie haben Ihr Handy während der Fahrt benützt, das ist verboten). Ich sagte: «I’m sorry! What should I do now?» (Entschuldigung, was soll ich nun tun). Sie sagte: «Give us your driving licence and the car certificate please, then follow us.» (Geben Sie Ihren Fahrausweis und den Fahrzeugausweis, dann folgen sie uns). Ich folgte ihnen, während ich meine Tränen zurückhielt. Wir hielten irgendwo an, sie dokumentierten den Vorfall und liessen mich gehen. Ich verstand nicht, warum sie es nicht schon beim ersten Halt dokumentiert hatten und warum sie mich so lange hinter ihnen herfahren liessen. Jedenfalls weinte ich den ganzen Weg nach Hause, entlang des schönen Weges mit Blick auf die Alpen – dem Weg meiner Kindheitsträume. Nicht, weil ich in der Polizeidatenbank erfasst wurde, sondern wegen den schlechten Nachrichten aus meinem Heimatland.

Die Geldstrafe kam eine Woche später. Aber ganze sechs Monate später erhielt ich einen Brief, in dem stand, dass mir wegen des Bedienens des Handys während der Fahrt der Führerausweis für mindestens einen Monat entzogen wird und möglicherweise herabgestuft und in eine Probezeit umgewandelt wird. Falls ich Einwände hätte, solle ich innerhalb von zehn Tagen einen schriftlichen Widerspruch einreichen.  Ich habe einen langen handgeschriebenen Brief verfasst, wie einen Kriminalroman.

Neun Monate später erhielt ich einen weiteren Brief: «Wie wir erfahren haben, wurden Sie wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung für schuldig befunden. Der diesbezügliche Strafbefehl ist in Rechtskraft getreten.» Ich legte keinen Widerspruch ein und wartete auf den endgültigen Bescheid, der 14 Tage später an einem späten Freitagnachmittag eintraf. Darin hiess es: «Wir haben den Fall sorgfältig geprüft und beschlossen, ihn diesmal nachsichtig zu behandeln und Ihnen nur eine Verwarnung auszusprechen. Bei weiteren Verstössen wird diese Entscheidung jedoch überdacht.» Ich konnte meinen Augen kaum trauen und war mir nicht sicher, ob ich den Inhalt richtig verstanden hatte, also schrieb ich eine E-Mail an das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt:

«Guten Tag, ich habe den beiliegenden Brief erhalten, aber ich kann meinen Augen nicht trauen. Wenn das wahr ist und mir verziehen wurde und ich meinen Führerausweis behalten kann, möchte ich mich herzlich bedanken und verspreche, noch vorsichtiger zu fahren als je zuvor.» Vielleicht hätte so ich nicht an ein Amt schreiben sollen, aber ich wusste nicht, wie ich sonst hätte audrücken können, dass ich meinen eigenen Augen nicht trauen konnte. Die Antwort auf meine Dankesmail kam am Montag um 6.09 Uhr. Frau S. schrieb: «Genau, Sie müssen nur die Entscheidgebühr bezahlen und die Busse, und damit ist die Angelegenheit erledigt. Von einem Führerausweisentzug konnte zu Ihren Gunsten abgesehen werden. Freundliche Grüsse.»

Offensichtlich hatte ich also Frau S. den Tag verschönert, wahrscheinlich auch dem ganzen Amt. Wahrscheinlich hatte sich noch nie jemand so herzlich beim Amt bedankt. Und ich war sehr froh, dass ich es getan hatte.

Nach diesem Vorfall sah ich auf der Autobahn immer wieder Polizeiautos, die abwechselnd «Suivre» und «Follow me» blinkten. Aber zum Glück nie wegen mir. Bitte schön, lieber Herr Albert Rösti. Unbewusst habe ich Ihrem Ministerium etwas Gutes getan.

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