«Wichtig ist», so sagt der 60-Jährige, «dass Sie absolut geruchsneutral zu mir kommen, kein Eau de Toilette, kein Mückenspray; die Seidenraupen vertragen das nicht.» Und damit ist bereits klar, dass die Raupen ebenso empfindlich sind wie ihr späterer Seidenfaden.
Rund um die Uhr fressen
Zur Geschichte: Bereits vor 5000 Jahren wurden in China Seidenraupen gezüchtet. Die Seidenraupe ist die Larve des Seidenspinners. Die Paarung der Schmetterlinge dauert sechs bis acht Stunden. Danach legt das Weibchen in wenigen Tagen ungefähr 400 Eier und stirbt anschliessend. Aus den befruchteten Eiern schlüpfen nach dem Überwintern die Seidenraupen. Und diese zuerst winzigen Raupen haben es in sich: Bis sie sich nach knapp einem Monat in ihrem Kokon einschliessen, fressen sie… nonstop. Sind die bei unserem Besuch 15’000 noch ganz kleinen Raupen einmal grös-
ser, fressen sie ihren Züchter «zu armen Tagen», nämlich 75 Kilogramm Maubeerbaumblätter. Pro Tag. Und weil nonstop auch nonstop bedeutet, heisst das für Ueli Ramseier und seine Frau Bettina Clavadetscher mehrere Fütterungen von den vorhandenen 500 Maulbeerbäumen in 36 verschiedenen Varianten pro Tag. Das führt dazu, dass die kleinen Raupen innert eines Monats ihr Gewicht auf unglaubliche Art vervielfachen.
Ein 2,5 km langer Faden
Die Seidenraupe häutet sich viermal, und ungefähr vier Wochen nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei ist sie spinnreif. Die aus der Spinnwarze austretende Substanz erhärtet an der Luft sofort zu einem Faden. Indem die Raupe beim Austreten des Materials gezielte Kopfbewegungen macht, legt sie Fadenwindung für Fadenwindung um sich herum und schliesst sich so im Kokon ein. Dieser Kokon, in drei Tagen entstanden, besteht aus einem einzigen bis zu 2500 Meter (!) langen Faden. Sechs Tage nach dem Einspinnen verpuppt sich die Seidenraupe, nach weiteren acht Tagen schlüpft der Schmetterling, wobei er den Kokon durch eine bräunliche Flüssigkeit an einer Stelle auflöst. Dazu wird es aber nicht kommen, «denn der inzwischen im Kokon herangewachsene Schmetterling würde beim Ausschlüpfen aus dem Kokon die feine Fadenstruktur zerstören, weshalb die Puppe vor ihrem Schlüpfen abgetrocknet wird und stirbt», erklärt der Fachmann.
5000 Raupen für ein Kilo Seide
Nach dem Abtrocknen wird, wie es im Fachausdruck heisst, abgehaspelt: Die Kokons kommen in heisses Wasser, um den Seidenleim, der die Seidenfäden im Kokon zusammenhält, aufzuweichen, sodass der Faden auf Haspeln gewickelt und getrocknet werden kann. Dies geschieht nicht in Hinterkappelen, sondern in Bolligen, wo Ueli Ramseier mit Teilzeitangestellten der ehemaligen Poststelle eine Seidenmanufaktur aufbauen konnte. Notabene: Für ein Kilogramm Seide benötigt man 5000 Raupen. Die daraus entstehenden Seidenstränge – aus Platzgründen wird die Verarbeitung nur Twitter-mässig erwähnt – werden danach gezwirnt, eine Arbeit, die nur im angrenzenden Ausland gemacht werden kann. Anschliessend wird die Seide zu Tuch verwoben, zu Produkten, wie wir sie auch im Laden von Bettina Clavadetscher in Hinterkappelen finden.
Und was ist Ueli Ramseier wichtig? «Dass man mit einem Naturnischenprodukt in der Schweiz 40 Teilzeit-Arbeitsplätze schaffen und 10 KMU mit Kleinstaufträgen beschäftigen kann, aber dazu braucht es Leidenschaft, auch wenn es in meteorologisch ungünstigen Jahren mit Spätfrost und Nässe… Leiden schafft.»