Wertschätzung und Solidarität für Menschen in Armut

«Die Hand ist leer, aber das Herz voller Glück»

Helene Wieland
Für mehr Solidarität: Mittlerweile sind 22 ehrenamtliche Coiffeusen und Coiffeure sowie Staff-Kar-Lis im Einsatz.

Foto: Foto: HW

Einfach erklärt
Einfach erklärt: Auch in der Schweiz gibt es arme Menschen. Diesen will der Verein «Kar-Li» helfen und schneidet ihnen gratis die Haare und den Bart. Das gibt den Menschen wieder mehr Selbstvertrauen.
Nicht alle haben das Glück, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Der gemeinnützige Verein «Kar-Li» unterstützt obdachlose und armutsbetroffene Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Ausgerüstet mit Kamm, Schere und Föhn beschenken ehrenamtliche Coiffeusen und Coiffeure die Bedürftigen mit einen Gratis-Haarschnitt und sonstigen Artikeln des täglichen Bedarfs.

Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Die Bevölkerung lebt in Sicherheit und geniesst einen hohen Lebensstandard. Doch diese vermeintliche Sicherheit kann ins Wanken geraten und Menschen in missliche Situationen bringen. Sei dies aus wirtschaftlichen Gründen, aufgrund von ungünstigen Familien-verhältnissen, Krankheit oder einem Schicksalsschlag. Gesellt sich dazu noch eine Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen, können sich Betroffene kaum noch aus eigener Kraft auffangen und verlieren im schlimmsten Fall ihren Job. Eine Abwärtsspirale beginnt, die in der Armut endet. Auch Familien oder ältere Menschen, unabhängig von kulturellem oder intellektuellem Hintergrund, können in eine Notlage geraten. «Jede und jeden kann es treffen», weiss Karin Flückiger-Stern. Die Frau mit der markanten Brille und einem rassigen Kurzhaarschnitt ist die treibende Kraft hinter dem Verein «Kar-Li». 

Mehr Selbstvertrauen

Die 49-jährige führt seit 21 Jahren ihr eigenes Coiffeur-Geschäft, seit 10 Jahren am Standort Niederwangen und weiss, was es bedeutet, wenn das Geld knapp wird. Mit dem Verschwinden kleiner Fachgeschäfte im Zentrum fehlte es plötzlich zunehmend an Laufkundschaft und die Geschäftsinhaberin hatte Mühe, sich und die Angestellten auszulasten. Die Situation entspannte sich, als eine Mitarbeiterin die Stelle wechselte. Im November 2017 begann sich Flückiger-Stern mit armuts-betroffenen Menschen zu solidarisieren – mit Spenden und Freiwilligenarbeit. 2021 gründetet sie mit acht Gleichgesinnten den Verein Kar-Li. Ausgerüstet mit einem einfachen Coiffeur-Köfferchen besuchen ehrenamtliche Coiffeusen und Coiffeure Aufenthaltsräume sozialer Hilfseinrichtungen, um den Menschen gratis die Haare und den Bart zu schneiden. «Dies gibt den Menschen ein gutes Gefühl, schenkt ihnen Selbstvertrauen und alle verlassen den Raum mit einem breiten Strahlen», erzählt die gelernte Coiffeuse begeistert. Auch Hygieneartikel, Kleider und gut haltbare Esswaren werden gesammelt und an die Bedürftigen abgegeben. 

Zum Namen

Der Vereinsname Kar-Li entstand aus einem Wortspiel: «Karli war schon immer mein Spitzname. Daraus entstand Kar-Li für karitative (wohltätige) Liebe. Die grosse Dankbarkeit und Freude der Menschen ist unser Lohn», so die gelernte Coiffeuse. «Seit der Gründung haben über 35 Einsätze stattgefunden und wir haben 1050 Gäste empfangen, Tendenz steigend», resümiert die Oberbottigerin. Deshalb sucht der Verein auch dringend nach Freiwilligen, welche bereit sind, in den Gebieten Bern, Basel, Solothurn, Mittelland und der Ostschweiz ehrenamtliche Einsätze zu leisten.

«Hinter jedem Menschen steht ein Schicksal»

«Ich heisse es nicht gut, wenn Menschen trinken oder Drogen nehmen, doch wenn ich höre, was ihnen im Leben wiederfahren ist, kann ich es nachvollziehen», sagt die glücklich verheiratete Mutter von zwei erwachsenen Töchtern verständnisvoll. Dieses Verständnis, dass Menschen ausgerechnet in der reichen Schweiz in Armut geraten, fehle oft in der Gesellschaft. Die Auswirkung: Betroffene schämen sich und können sich nicht überwinden, Hilfe anzunehmen. «Wir wollen diesen Menschen eine Stimme geben und Armut in der Schweiz sichtbar machen.» Immer wieder hört das Team bewegende Lebensgeschichten und erlebt berührende Momente. «Es ist unglaublich, wie dankbar die Menschen sind. Viele weinen vor Freude und umarmen uns. Nur ohne Egoismus findet man zu sich selbst. Die Welt würde ganz anders sein, wenn das mehr Menschen berücksichtigen würden. Unsere Hände sind zwar leer, aber unser Herz ist gefüllt mit Liebe und Glück», sagt Flückiger-Stern mit feuchten Augen, sichtlich gerührt und fest entschlossen, sozial benachteiligen Menschen weiterhin zur Seite zu stehen. Ganz nach dem Motto des Vereins: «Zusammen sind wir stark.»

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