Was die Wahlresultate der Stände- und Nationalratswahlen für den Stadtteil VI bedeuten

Steht die rotgrüne Stadt unter Druck?

Sacha Jacqueroud
Von Sacha Jacqueroud - Chefredaktor
Der Wahltrubel ist vorbei, zurück bleiben neue Erkenntnisse – auch für den Stadtteil VI.

Foto: zvg/© Parlamentsdienste/Tim Loosli

Einfach erklärt
Am 22. Oktober hat das Volk den National- und Ständerat gewählt. Erich Hess (SVP) bleibt der einzige Nationalrat aus dem Stadtteil VI, aber einige haben sehr gut abgeschnitten, insbesondere bei der Wahlsiegerin SP.
Das Parlament wird bürgerlicher. So die prägnante Zusammenfassung vieler Berichterstattungen. Jein, sagt die BümplizWochen. Insbesondere mit Blick auf den Stadtteil VI.

Warum ist Bern so langsam, hat sich wohl ein guter Teil der Schweiz gefragt. Erst um 22.30 Uhr stand fest, wie die Wahlen im Kanton ausgegangen waren. «Schuld» war die Stadt Bern, auf deren Auszählung alle warten mussten. Staatsschreiber Christoph Auer meinte entsprechend: «Niemand hört gerne, dass alle auf Bern warten.» Das ist verständlich und schürt die Klischees über die Berner Langsamkeit. Doch dahinter steckt eine interessante Erkenntnis und eine noch bessere Erklärung.

Interessierte Wählerschaft

Die Stadt Bern trumpft mit einer Wahlbeteiligung von 58 % auf. Zum Vergleich: Der Schweizer Schnitt lag bei 46,6 % und derjenige des Kantons Bern bei 49,7 %. Also hat schon mal der Kanton eine überdurschnittlich hohe Wahlbeteiligung auszuweisen, doch die Stadt Bern spielt fast in einer eigenen Liga. Es gab also deutlich mehr Zettel auszuzählen als anderswo. Doch damit nicht genug: Viele Wählerinnen hätten veränderte Listen eingeworfen, verrät Stadtschreiberin Claudia Mannhart. Statt einfach die «Partei des Vertrauens» zu wählen, haben sich in der Stadt Bern besonders viele Menschen die Mühe gemacht zu «panachieren», also Menschen aus verschiedenen Parteien zusammenzustellen und sich selbst die ideale Besetzung für Bundesbern zu bauen. Es ist also durchaus als Kompliment an die Berner Stadtbevölkerung zu verstehen, wenn man so lange auszählen muss, weil eine interessierte Wählerschaft sich überdurchschnittlich mit den Wahlen auseinandersetzt.Nun ist es nicht möglich, den Stadtteil VI gesondert im Hinblick auf diese Statistiken zu analysieren, bzw. nachzuschauen, ob die Beteiligung und die Menge der panachierten Wahllisten in Bümpliz oder Bethlehem grösser oder geringer waren. Was sich hingegen sagen lässt, ist, dass diese rein aufgrund der Einwohnerzahl sicherlich über dem schweizerischen und dem kantonalen Schnitt liegen müssten. Also gilt genauso für den Stadtteil VI: Es gibt überdurchschnittlich viele interessierte Wählerinnen und Wähler. 

Bümpliz als SVP-Schaltzentrale

Schweizweit hat die SVP zu Recht viel Aufmerksamkeit erlangt. Sie zementiert ihre Position als stärkste Partei, baut diese aus und legt im Kanton Bern um einen Sitz zu. Der heimische Nationalrat Erich Hess (SVP) erzielt mit 108’776 Stimmen das viertbeste Resultat aller Gewählten. Das ist aus zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen lebt er nicht unbedingt in den typischen Stammlanden oder Hochburgen der Partei. Zum anderen gilt Hess im Reigen der Nationalräte als einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt und sich auch mal exponiert. Das Volk belohnt ihn für seinen Mut und das dürfte dem umtriebigen 42-Jährigen Grund genug geben, seinen Weg weiterzubeschreiten. Die eine oder andere Stimme hat er sich sicherlich noch am Bümpliz Märit gesichert, verliessen doch einige den Markt mit einem gelben Schnitzer, einer Kochkelle oder einer Parkscheibe mit seinem Konterfei. Im Hintergrund geniesst der Nationalrat viel Unterstützung der SVP Bümpliz. Thomas Fuchs orches-triert von Bottigen aus die Geschicke der Partei und tut dies einmal  mehr mit Erfolg.

SP heisst auch Siegerpartei

Die andere Siegerin der diesjährigen Wahlen ist die SP. Ihr gelingen gleich zwei Überraschungen. Einerseits erhielt ihre Ständeratskandidatin Flavia Wasserfallen gar mehr Stimmen als der bisherige Ständerat Werner Salzmann (SVP), anderseits gewinnen die Sozialdemokraten ebenfalls einen Nationalratssitz dazu und das wohlbemerkt mit 4 % Zuwachs und damit noch mehr Wachstum als die SVP. Die SP ist so gesehen die Wahlsiegerin im Kanton Bern. Wie ist der Gewinn der SP gegenüber dem Verlust der Grünen zu erklären? Ansätze dazu gab es bereits reichlich. Einer sei hier aber mit Blick auf Bümpliz noch addiert. Die SVP hat prozentual in Bern keine zehn Prozent. Die SP hingegen trumpft klar als stärkste Partei auf und baut diese Position gar noch aus. Der Stadtteil VI hat zwar einen deutlich höheren SVP-Wähleranteil als die anderen Stadtteile, aber es ändert nichts daran, dass die SP auch in Bümpliz Bethlehem stärkste Partei ist. Den Grund, weshalb die Grünen den Sozialdemokraten aktuell nicht das Wasser reichen können, findet man unter anderem in den Aussagen von Meret Schindler (SP) im Streitgespräch mit Tobias Vögeli (GLP) und Erich Hess (SVP), welches die BümplizWochen im September veröffentlichte: Die für den Stadtteil VI wichtigen Themen wie Wohnungssituation, Teuerung oder Krankenkassen sind Probleme, in welchen sich die Sozialdemokraten schon lange klar positionieren, die Grünen werden hingegen in der Bevölkerung noch allzu oft reduziert auf die Klimapolitik wahrgenommen. Es ist nicht so, dass die Grünen nicht auch klare Meinungen zu den besagten Themen haben, aber sie werden oft als eine Art kleine Schwesterpartei der SP wahrgenommen und müssen sich wohl zukünftig überlegen, ob sie sich ab und an etwas mehr abnabeln wollen. Die Bümplizer Kandidierenden der SP, Meret Schindler und Chandru Somasundaram, verpassen den Einzug in den Nationalrat. Beides sind aber junge Menschen, deren Politkarriere noch länger andauern dürfte. Sie sammeln die wichtigen Erfahrungswerte, weshalb ihre Wahlchancen in kommenden Wahlen absolut intakt sein dürften. Das belegen die hohen Stimmenanteile, welche die beiden erhalten haben; insbesondere Meret Schindler fehlten sehr wenige Stimmen für den Einzug in den Nationalrat. Einer mit Bezug zu Bümpliz ist bei der SP Männerliste auf dem ersten Ersatzplatz: Ueli Schmezer. Der Mister Kassensturz war nicht nur am Bümpliz Märit zugegen und erfreute manch Besuchende. Nein, auch an den Versammlungen der SP Bümpliz Bethlehem und im Stadtteil VI ist es regelmässig anzutreffen, da sein Onkel in Bümpliz wohnt.

Und die anderen Parteien?

So stark auf nationaler Ebene der enge Zweikampf zwischen der Mitte und FDP beobachtet wurde, insbesondere im Zusammenhang mit dem Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz, so sehr zeichnet die Stadt Bern ein etwas anderes Bild. Die FDP verliert einen Sitz, damit haben die Experten vor dem Wahlsonntag nicht gerechnet. Die Liberalen haben insbesondere im Grossraum Bern einen erstarkten Jungfreisinn. Noch fehlt diesen jungen Menschen die Erfahrung und die Bühne, um sich in einem breiteren Feld zu präsentieren, aber ein Wiedererstarken dürfte wahrscheinlich sein. Dass die FDP aber aktuell ein Generationenproblem hat, stimmt eben auch. Anders sieht die Situation bei der Mitte aus. Sie hält ihre Sitzzahl just in dem Kanton, in dem sie nicht annähernd so stark ist wie im benachbarten Freiburg. Grund zur Freude hat die Stadt Bern zudem, weil der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (die Mitte) neu in den Nationalrat zieht. Doch im Stadtteil VI hat die Mitte sicherlich noch einen beträchtlichen Aufholbedarf oder – gemäss Parteipräsident Gerhard Pfister – Aufbauarbeit zu leisten. Die GLP, im benachbarten Köniz eine der stärksten Parteien, verteidigt ihre drei Sitze. Davon kann der Kandidat aus Frauenkappelen, Tobias Vögeli (GLP), nicht profitieren, dazu wäre ein Sitzgewinn vonnöten gewesen, aber die junge Partei dürfte ihre Lehren aus diesen Wahlen ziehen. Finanzpolitisch und in der Klimapolitik ist die GLP klar positioniert und wird von der Bevölkerung entsprechend eingeschätzt. Doch die in diesem Jahr so zentralen sicherheitspolitischen oder sozialen Themen sind von anderen Parteien gut besetzt und bedient. Hier dürfte sich die GLP zukünftig noch klarer positionieren, auch wenn im Gespräch vom September Vögeli in allen Punkten die Haltung seiner Partei klar dargelegt hat. Einen Achtungserfolg erzielt im Verteilgebiet dieser Zeitung Katja Streiff (EVP). Es war unwahrscheinlich, dass die kleine Partei einen Sitz dazugewinnt. Doch die Verteidigung desselben gelang. Damit wird die Wangentalerin zur Ersatzkandidatin. Sollte die EVP den Sitz neu besetzen müssen, rückt Streiff vor. «Ich bin überglücklich mit meinem Resultat», freut sich die Grossrätin entsprechend.

Einmittung der Extreme

Fasst man diesen Streifzug zusammen, bleiben einige für den Stadtteil VI wertvolle Erkenntnisse übrig: Erich Hess (SVP) bleibt der einzige gewählte Nationalrat aus dem Stadtteil VI, doch in Lauerstellung sind gleich mehrere Politisierende aus dem Verteilgebiet dieser Zeitung. Die lokalen Parteien der SP und der SVP haben diese Wahlen mit Erfolg bestritten. Dass die anderen Parteien keine gesonderten Lokalableger für Bümpliz Bethlehem haben, spürt man. Die SP Bümpliz Bethlehem ist als traditionelle Lokalpartei ein wichtiger Teil der Bümplizer Identität und für die SP Bern und die SP Schweiz ein starker Vertreter auf kommunaler Ebene. Ganz ähnlich bei der SVP: Ihre Präsenz ist in vielen Berner Städten nicht so dominant wie auf nationaler Ebene, aber die «Bümplizer-Fraktion» schafft es oft fast im Alleingang rotgrüne Anliegen zu bekämpfen, indem sie Vorhaben vors Volk zieht. In wenigen Tagen erneut, wenn es um den Spielplatz Untermatt geht. Auch bei ihnen gilt: Sie haben im Stadtteil VI einen festen Rückhalt und investieren in diesen. Zudem darf dieser Teil der SVP durchaus auch ein wenig als wichtiger Strategiort der Partei angesehen werden. Hat also der Stadtteil VI zwei Extreme und wenig dazwischen? Ja, durchaus. Beide haben ihre Position verstärkt. Da der Grossrat in seiner Mehrheit bürgerlich ist und nun auch die Berner Nationalrätinnen und Nationalräte in der Mehrheit  rechts des Spektrums liegen, dürfte dies den Druck auf die rotgrüne Stadt Bern erhöhen. Nicht direkt, aber von aussen. Denn die rotgrüne Mehrheit wird ausserhalb der Stadtgrenzen vielleicht auch vermehrt an Verständnisgrenzen stossen. Dann etwa, wenn es um Wirtschaftsfragen geht. Denn dieser Bereich findet in der Legislaturplanung der Stadt nach wie vor nur sehr wenig Platz. Gleiches gilt, wenn man die Vorstösse im Stadtparlament anschaut. Hier dürfte Druck von aussen, namentlich von den Wirtschaftsverbänden, zu erwarten sein. Nun könnten die Linken das schon fast ignorieren, wären da nicht die bevorstehenden Wahlen für das Stadtberner Parlament und den Gemeinderat. Für einmal darf man umgekehrt rechnen: die nationalen Wahlen als Gradmesser für die lokalen Wahlen 2025 herbeiziehen. Es würde nun wirklich niemanden erstaunen, wenn die SP auch hier als klare Siegerin hervorgeht. Die Frage ist, ob sie den anderen linken Parteien Plätze abringt. Im bürgerlichen Lager darf man sich hingegen berechtigte Hoffnungen machen, nicht zuletzt dank der SVP, vielleicht den einen oder anderen Sitz mehr zu holen, weil Themen wie die Finanzsituation oder der Wirtschaftsstandort Bern für einige Bürgerinnen und Bürger doch wieder vermehrt in den Fokus gelangen dürften. Jein, im Stadtteil VI wird es nicht bürgerlicher, hierfür ist die SP zu stark. Aber die SVP ist ebenfalls erstarkt und das wiederum spricht dafür, gepaart mit der kantonalen Einstellung der Bevölkerung, dass vermehrt Druck auf die Stadt Bern ausgeübt werden wird. Zumindest in gewissen Finanz- und Wirtschaftsfragen.

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