Romina Jofre und Semiha Gider – zwei Frauen mit zwei ganz unterschiedlichen Geschichten. Jofre ist gelernte Kauffrau und stammt aus Chile, Gider ist vor 16 Jahren ohne Berufsdiplom aus der Türkei in die Schweiz gezogen. Beide fanden in ihrer neuen Heimat im Mütterzentrum Bern West einen Ort, an dem sie nicht nur mitarbeiten konnten – er wurde ihnen gar zum Sprungbrett in den nächsten Lebensabschnitt.
«Ohne Diplom ist es schwierig, in der Schweiz eine Stelle zu finden», sagen beide Frauen übereinstimmend. Sie hatten sich bereits in Sprachkursen ins Zeug gelegt und arbeiteten stundenweise im Mütterzentrum mit, als Jofre anfragte, ob sie nicht gleich hier die Ausbildung zur Fachfrau Betreuung Kinder in Angriff nehmen könne. Seit rund 30 Jahren bietet die Institution in Bethlehem Frauen und ihrem Nachwuchs einen Treffpunkt mit Kinderbetreuung und diversen Angeboten – auch «Minijobs» gehören dazu. Nun ermöglichten die Verantwortlichen unter der damaligen Geschäftsführerin Sonja Pihan die ersten beiden Ausbildungsplätze.
Lehre in einer Fremdsprache
Die letzten beiden Jahre waren eine intensive Zeit für Jofre und Gider. Aufgrund ihrer mehrjährigen Erfahrung in der Kinderbetreuung konnten sie die eigentlich dreijährige Lehre verkürzt absolvieren. Doch die Ausbildung in einer Fremdsprache wurde zur Herausforderung. Die 36-jährige Gider wurde zudem während der Ausbildungszeit Mutter – und besuchte bereits drei Wochen nach der Geburt wieder die Berufsschule. «Manchmal schlief ich nur drei bis vier Stunden und stand um vier Uhr morgens auf, um zu lernen, weil das Baby dann noch schlief. Es war nicht einfach», schaut sie zurück. Pädagogik, Psychologie, Allgemeinwissen: «Da gab es so viele Wörter, die ich vom Alltag noch nicht kannte.» Dazu kamen die Hürden bei der Suche nach einem Kita-Platz für ihren Sohn. Doch es hat sich gelohnt. Beide schlossen diesen Frühling die EFZ-Ausbildung erfolgreich ab und fanden direkt eine Arbeitsstelle.
«Ich verstehe Kinder heute besser als vorher»
Semiha Gider ist heute in der Tagesbetreuung der Schule Schwabgut tätig, Romina Jofre in der Tagesschule Tscharnergut sowie im Kindergarten Rapperswil. Das Gelernte setzen die beiden Fachfrauen nun täglich um. «Früher, wenn Kinder sich stritten, versuchte ich schnell einmal, zu schlichten», erzählt Gider. Heute wisse sie, wie wichtig es sei, zuerst einmal beobachtend im Hintergrund zu sein. «Sie sollen lernen, ihre Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken und möglichst selbst eine Lösung zu finden.» Jofre bestätigt das: «Ich verstehe Kinder heute viel besser als vor der Ausbildung.» Etwas aber sei, nebst aller Psychologie und Pädagogik, am bedeutendsten: «Wenn man mit Kindern arbeiten möchte, ist die Liebe zu ihnen äusserst wichtig.» Sie selbst half schon in Chile immer wieder bei Projekten mit bis zu 500 Kindern mit. In der Schweiz versuchte sie trotzdem zuerst, als Kauffrau in der Hotellerie Fuss zu fassen – erfolglos. Die Ausbildung zur Spielgruppenleiterin führte sie bereits 2017 in den pädagogischen Bereich. Zusammen mit den fünf Jahren Erfahrung im Mütterzentrum war sie schlussendlich für die Prüfung zur FaBe K zugelassen, ohne noch eine Lehre absolvieren zu müssen. Trotzdem entschied sie sich für die zwei Jahre Ausbildungszeit am «MüZe». Diese Stelle sei ein grosses Glück gewesen. Auch Gider betont: «Ich war zuerst Praktikantin hier, dann Mitarbeiterin und zum Schluss Lernende. Ich freue mich, hier eine gute Chance bekommen zu haben.»
Gewinn fürs MüZe
Geschäftsführerin Regina Stucki ist ebenfalls voller Stolz über das gelungene Pilotprojekt. Soeben habe eine neue Frau die Lehre zur FaBe K angefangen, erzählt sie. «Es ist ein Zusatzaufwand für uns, klar, aber wir sehen es hauptsächlich als Gewinn.» Das «MüZe» könne so die hohe Beratungs- und Betreuungsqualität beibehalten, erfahre durch die Auszubildenden eine Professionalisierung. «Wir wissen durch sie immer, wo die Forschung gerade steht, was aktuell ist.» Sie zollt den jungen Frauen, die eine solche Ausbildung wagen, grossen Respekt: «Bisher hatten alle eigene Kinder zuhause, die Arbeit an der Lehrstelle und zudem die Ausbildung in einer für sie neuen Sprache.» Dass Gider und Jofre dies gemeistert hätten, zeuge von grossem Durchhaltevermögen.
«Es gibt immer eine Möglichkeit, vor allem hier in der Schweiz. Doch die Motivation muss von innen kommen. Ich rate allen, die diesen Weg gehen möchten, sich Unterstützung zu suchen und die Motivation nicht zu verlieren», so Romina Jofre. Semiha Gider fügt an: «Zuerst muss man sicher gut Deutsch können. Wichtig ist aber, nie zu sagen ‹ich kann nicht›. Wenn man es will, soll man dran bleiben, jede Form von Unterstützung in Anspruch nehmen und mutig sein.»