Weil er ihn nichts anging, marschierte Corpataux in Richtung Fussgängerzone, als die Gestalt umfiel. Hilfsbereit, wie der 62-Jährige war, lief er zum jetzt am Boden liegenden Mann zurück. Unschön jedoch, was er zu sehen bekam. Im Bauch steckte ein Bajonett. Jacke und Tatwaffe waren blutverschmiert. Weil der Mann noch leise Lebenszeichen von sich gab, avisierte Corpataux sofort den Notruf der Polizei. Nur wenige Minuten später stand bereits eine Ambulanz der Sanitätspolizei vor Ort. Dem Mann konnte allerdings nicht mehr geholfen werden.
Weil ganz offensichtlich eine Tat mit Fremdwirkung, wurde das «ganze Rösslispiel» der Kantonspolizei Bern aufgeboten. Dezernat Leib und Leben, Kriminaltechnischer Dienst KTD, Institut für Rechtsmedizin IRM, Staatsanwaltschaft und Medienstelle. Diese Fachleute trafen in den nächsten 15 Minuten ein, eine nach dem anderen. Zwei Streifenpolizisten, von der Einsatzzentrale sofort zum Fundort beordert, trafen praktisch zeitgleich mit der Ambulanz ein. Sie hatten die unmittelbare Umgebung rund um die Leiche – inzwischen hinter einem Sichtschutz liegend – mit rotweissen Bändern abgesperrt, obwohl zu dieser Zeit fast keine Neugierigen mehr unterwegs waren. Einzig ein freier Mitarbeiter der BümplizWochen gesellte sich zu den Ermittlern, weil nach einem Herrenaband mit Kollegen ebenfalls noch – ohne Auto – unterwegs und in unmittelbarer Nähe wohnend.
Dezernatsleiter Konrad Schneider musste Esther Hasler im IRM gar nicht erst die Mutter aller Fragen stellen, der Todeszeitpunkt war bekannt. «Aufgrund des hohen Blutverlusts», ergänzte die Rechtsmedizinerin, «gehe ich beim Zeitpunkt der Tat von 15 Minuten vor dem Exitus aus. Der Überfall muss also gegen 1.45 Uhr stattgefunden haben.»
«Koni, hast du erste Erkenntnisse?», erging die Frage an den Kriminaltechniker, neben der Leiche kniend. «Ein Raubüberfall scheint unwahrscheinlich. Handy, Brieftasche, Ausweise und Geld sind noch da. Der Mann heisst Tobias Mangold, wohnhaft am Buchdruckerweg, ganz in der Nähe.» Aufgrund von vorgefundenen Fotos konnte – oder musste – man davon ausgehen, dass Mangold zumindest in einer Partnerschaft lebte. Aufnahmen zeigten ihn mit einer Frau und zwei Teenagern, möglicherweise ein Familienschnappschuss.
«So wie er da liegt, seine beiden Hände am Bajonett. Koni, hat er noch versucht, die Klinge rauszuziehen?» – «Gut möglich, ja, weil wir ja davon ausgehen können, dass er sie sich nicht selber in die Bauchhöhle gestossen hat.» In diesem Moment meldete sich der Schreiberling der BümplizWochen aus der Distanz, artig hinter dem Absperrband stehend. Ob er vielleicht weiterhelfen könne, rief er den Ermittlern zu, worauf Viktor «Fige» Kneubühl auf den ungefähr 30-Jährigen zuging, die Brieftasche des Toten in der Hand.
«Brauchen Sie mich noch?», wollte Corpataux mit erhöhter und hörbar gereizter Stimme in diesem Moment wissen, worauf Kneubühl ihn entgeistert ansah und sich vielmals dafür entschuldigte, dass niemand ihn zu den Umständen seiner Beobachtung und seinem Handeln befragt hatte. Ach, wie peinlich. «Kommen Sie bitte zu mir, ich möchte Ihnen und dem Herrn der BümplizWochen ein Foto zeigen. Vielleicht erkennen Sie jemanden.» «Das ist Tobias Mangold», kam es sozusagen lippensynchron von den beiden Befragten. Corpataux wusste noch einiges mehr über den Toten zu berichten.
Mangold war ein angesehener Banker, und daran, ein schönes Einfamilienhaus zu bauen. Hinter vorgehaltener Hand wurde hingegen getuschelt, dass er sich finanziell übernommen und Schulden hatte. War also das Tötungsdelikt in diesem Umfeld zu suchen? Ein wütender Gläubiger? «Wohl kaum», ging Kneubühl durch den Kopf, «das wäre unlogisch, den eigenen Schuldner zu ermorden.» Seine Gedanken wurden von Konrad Schneider unterbrochen, dem die Stellung der Hände des Toten mehr und mehr zu denken gab. Was, wenn er sich die tödliche Verletzung eben doch selber zugefügt hatte? Unlogisch, aber möglich.
Der nächste Tag brachte Klarheit. Esther Hasler wartete als Erste mit einer Überraschung auf. Für sie war nach der Autopsie klar, dass Mangold sich die Verletzung selber zugefügt hatte, zumal er vorher seinen Bauch unempfindlich gespritzt hatte. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen litt der Mann an Pankreaskrebs im Endstadium, zum anderen hatte er seit vielen Jahren schon eine Lebensversicherung über eine halbe Million Franken abgeschlossen, um seine Familie finanziell abzusichern. Diesen Betrag würde die Versicherung ausbezahlen müssen.
Unklar blieb einzig der Umstand, weshalb er sich als Sterbeort den Polizeiposten Bümpliz ausgesucht hatte.