Und das unterscheidet den Kanton Bern von seinem Nachbarskanton Freiburg. «Das Wahl- und Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer mit C-Bewilligung existiert bei uns im Kanton Freiburg schon länger, und es ist kein Thema, daran etwas zu ändern», sagt der Freiburger Grossrat und Gemeindepräsident von Plaffeien, Daniel Bürdel. Damit ist der Kanton Freiburg in guter Gesellschaft mit einer schweizweiten Entwicklung, die von Westen her aufkeimt. Wie «avenir suisse» in einer grossangelegten Befragung festgestellt hat, sind es vor allen Dingen die Westschweizer Gemeinden, die ein Wahl- und Abstimmungsrecht für Ausländerinnen und Ausländer mit Ausweis C im grossen Stil einführen. Die Kantone Jura und Neuenburg kennen es gar auf kantonaler Ebene. Das passive Wahlrecht, also jenes, das auch erlaubt sich für ein Amt zur Verfügung zu stellen, kannten im Jahr 2015 etwas mehr als 600 Gemeinden. 575 davon stammen aus der Romandie. Rückgängig machen will diesen Weg keine einzige der Gemeinden. Politische Ämter, die durch Ausländerinnen und Ausländer besetzt sind, gibt es bisher rund 200.
Es dauert wohl
noch ein bisschen
Der Berner Grosse Rat hat im Jahr 2020 äusserst knapp eine Ausweitung des kommunalen Wahl- und Stimmrechts auf die niederlassungsberechtigten Ausländer abgelehnt. Zum wiederholten Male. Es sei nicht die Idee, mittels Stimmrecht Integration zu betreiben, monierte damals das Parlament. Das sieht der Grüne Grossrat Hasim Sancar ganz anders. «Wer Teil des demokratischen Systems ist, bemüht sich darum, kann mitmachen und sich dadurch noch besser integrieren», ist er sich sicher. Angesichts der Tatsache, dass diese Menschen ja bereits niederlassungsberechtigt sind, einen Beruf ausüben und Steuern zahlen, dürfte man fast davon ausgehen, dass die Integration schon weit fortgeschritten ist und es viel mehr die logische Konsequenz wäre.
Viel ändert sich nicht
Dass eine Änderung mehrere Anläufe benötigt, bis das Volk so weit ist, davon können viele grossartige Ideen der Schweiz ein Liedchen zwitschern. Die AHV zum Beispiel eroberte ebenfalls auf kantonaler Ebene von der Romandie her die Schweiz. Sancar kennt all die Vorstösse, die es im Kanton Bern schon gegeben hat. Er sass schon 2010 auf der Tribüne, als anfänglich auch die FDP einem solchen Vorschlag zustimmen wollte. Aus gutem Grund, meint der Grüne und erklärt: «Die Kräfteverhältnisse würden sich kaum verschieben, Bürgerliche könnten also genauso von diesem Fortschritt profitieren.» Der Blick nach Westen zeigt: Das stimmt. Gerade die SVP hat dort einigen Zulauf von Menschen, die selbst vor geraumer Zeit in die Schweiz migriert sind und eher konservative Werte schützen wollen.
Vertreten sein
Viele würden zudem gar nicht vom Wahl- und Abstimmungsrecht Gebrauch machen, die Stimmbeteiligung unter Migrantinnen ist niedriger als bei den Einheimischen, wie der Blick in die Romandie aufzeigt. «Das hat mit dem Wahlsystem zu tun. Es ist kompliziert und man muss sich häufig mit komplexen Themen auseinandersetzen. Also beteiligen sich die Menschen zusehends nur noch thematisch», meint Sancar. Migrantinnen interessieren sich deutlich stärker, wenn Landsleute dabei sind. Das zeigt auch das Resultat von Chandrun Sommasundaram (SP) bei den letzten Nationalratswahlen. Er hat seinen Wahlflyer extra auf Singhalesisch übersetzen lassen. Doch zurück zu den 1,4 Mio. Menschen. Mindestens ein Viertel der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund, «und wo ist ihre Vertretung?», fragt Sancar. Im Ständerat, im Nationalrat und im Grossrat sind sie kaum vorhanden. Von der Exekutive ganz zu schweigen. Er selbst oder etwa Parteikollegin Sibel Arslan im Nationalrat bilden die Ausnahmen. Wenn also über die Volksvertretung im Bundesrat gefachsimpelt wird und man die Zauberformel in Frage stellt, kann man getreu Sancar zuerst noch einen Schritt zurücktreten und schon an der Basis einen solchen Mangel feststellen – jener, dass
25 % der Bevölkerung nicht in den kommunalen, kantonalen und nationalen Parlamenten vertreten sind. «Im Grossen Rat in Bern haben wir dafür eine Übervorteilung von Bauern», vergleicht der Grüne Grossrat und fasst zusammen: «Die Mehrheit im Grossen Rat ist eine von einer Minderheit gewählte Gruppe, wenn man das etwas pointiert sagen will.» Dabei wird er nicht müde zu unterstreichen, dass es wichtig sei, das Wahl- und Stimmrecht für Menschen mit Niederlassungsbewilligung zu entpolitisieren. Alle sollen davon profitieren.
Schlechte Chancen
Doch der Vorkämpfer befürchtet, dass seine Bemühungen, mit Blick auf die Wahlresultate im vergangenen Herbst, noch schwerer umzusetzen werden. «Antikampagnen gegen Ausländer haben zugenommen. Die Mitteparteien sind oft auf die SVP angewiesen, zum Teil haben sie sich zu wenig emanzipiert. Die FDP hat mit der Zeit immer mehr verloren, weil sie zu oft die SVP kopieren wollte. Wenn die FDP ihre weltoffene Haltung weiterhin vertreten würde, hätte sie mehr Erfolg. Sie müssen nicht grün sein wie wir, aber zumindest offener. Auch in gesellschaftlichen Fragen sind sie immer rechter geworden», schätzt Sancar die Situation ein. Dabei haben es Gesetzesänderungen oder Verfassungsänderungen, weil sie immer vor das Volk müssen, ohnehin schon schwer. Das System zu ändern könne nur gelingen, wenn es vom Parlament aus komme, glaubt Sancar.
Bildung macht den Unterschied
Doch der umtriebige Berner sieht noch einen anderen Weg, um vorwärtszukommen: die Bildung. «Das politische System der Schweiz besser in der Schule zu integrieren, ihm einen grösseren Stellenwert einzuräumen, damit Jugendliche das üben und umsetzen können, das würde viel bringen», ist er sich sicher. Zudem seien Systeme wie «easy vote», also ein Zugang zu den Themen über leichte Sprache, besonders wichtig. «Es ist wie eine Kette. Ich versuche Leute, die ich kenne, über Abstimmungsthemen zu informieren und mache Empfehlungen. Oft höre ich aber: ‹Wenn du nicht informierst, stimmen wir oft nicht ab›. Denn eines muss man verstehen: Ein Teil dieser Leute haben ein niedriges Einkommen, zwei Jobs, sind im Überlebenskampf und kämpfen um viel einfachere Dinge. Sie machen mit, wenn das verlangt und unterstützt wird, aber der eigene Antrieb ist nicht genug stark.»
Die Schweiz hat viele Qualitäten, aber demokratiepolitisch wirkt es zusehends wie ein Handicap, wenn 25 % der Bevölkerung ausgeschlossen sind. «Wer mitbestimmen kann, der hat auch Zugehörigkeitgefühl und Verantwortungsbewusstsein. Das ist sehr wichtig, vor allem die Verantwortung. Verantwortung ist der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung», unterstreicht Hasim Sancar. Das Wahl- und Stimmrecht für niederlassungsberechtigte Ausländer sorgt für Integration dank Partizipation. Daran glaubt die Romandie. In Bern aber warten ausländische Staatsbürger noch darauf. Für diese Menschen gilt auch im Jahr 2024: Sie haben als steuerzahlende Bevölkerungsgruppe keinerlei politisches Mitspracherecht.