«Es war einmal…» So beginnen die meisten Märchen, und wie ein Märchen erscheint auch die Geschichte einer jungen Frau aus Hinterkappelen. In ihrem Fall geht es so: Es war einmal ein Mädchen in Gstaad… Tief in den Bergen schnuppert es die Luft der weiten Welt, der Theaterwelt nämlich, in der alles möglich werden kann. Lieber singt und jodelt Sarah Luisa Iseli, als mit ihren Schulkameradinnen Ski fahren zu gehen. Beim jährlich in Gstaad stattfindenden Menuhin-Festival erlebt sie im Rahmen einer Kindervorstellung einen Moment, der ihr Leben für immer prägen wird. Das Mädchen singt, ganz allein, ein Lied auf der grossen Bühne. «Ich spürte in mir, dass das etwas Magisches ist. Indem ich etwas sang und eine Rolle spielte, konnte ich die Realität der Anwesenden verändern. Es fühlte sich an wie Zauberei und ich wusste, dass ich das immer und immer wieder machen will.» Jede Woche fährt ihre Mutter sie darum nach Bern in den Gesangsunterricht. Nach der Schule aber folgt, ganz vernünftig, ein Welschlandjahr und die Ausbildung zur Coiffeuse. Weiterhin singt die Jugendliche, nimmt regelmässig an Jodelwettbewerben teil.
Durchbruch
Dann aber setzt sie alles auf eine Karte und lässt sich in Zürich zur Schauspielerin für Musiktheater ausbilden. Bereits gut zehn Jahre ist das nun her, und etwa so lange schon steht sie regelmässig auf Bühnen und beschert den Zuschauenden Momente, in denen sie in eine andere Realität eintauchen können. Mehrere Jahre tourt Iseli mit «Kindermusical.ch» durch die Schweiz, verkörpert innerhalb von zwei Jahren 98-mal Annika oder Pippi Langstrumpf. 2019 gelingt ihr der Durchbruch: Sie kann zu 90 Prozent von der Schauspielerei und dem Singen leben und beschliesst, sich selbständig zu machen. Es dauert aber nicht lange, bis die Pandemie die Welt auf den Kopf stellt und zu Lockdowns mit leeren Bühnen führt. «Alles fiel wie ein Kartenhaus zusammen», beschreibt es die heute 29-Jährige.
Einbruch
Wie im Märchen, wo sich die Heldin plötzlich in einer Konfliktsituation wiederfindet, landet Sarah Iseli in einer tiefen Identitätskrise: «Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht auf der Bühne stehe?» Etwas taucht an die Oberfläche: «Ich lernte eine tiefe, melancholische Seite von mir kennen.» Diese neu entdeckte Stimme findet als Singer-Songwriterin «Sarah Luisa» Gehör. Es entstehen Lieder; Iselis Stimme begleitet von der Ukulele und weiteren Instrumenten. Mithilfe eines Crowdfundings realisiert sie ihre Debut-EP. «I’m scared of falling / But what if I fly?» – «Ich habe Angst, zu fallen / Aber was, wenn ich fliege?» dichtet sie etwa in «What if».
Aufbruch
Und tatsächlich hat sie jetzt, rund drei Jahre später, ein «sehr offenes 2023» vor sich. «Früher hätte mir das Angst gemacht», sinniert sie. Doch habe sie während zwei Jahren gelernt, dass sie ihre Zukunft nicht kontrollieren könne: «Ich sehe das nächste Kapitel darum als weisse Leinwand, die ich bemalen kann.» «Auch wenn alles zusammenfiel – ich konnte wieder etwas aufbauen. Dann stürzte es erneut ein – und ich setzte es wieder zusammen», beschreibt sie diese Zeit. Sie sei viel entspannter geworden. Anstatt wie vorher von einem Projekt ins nächste zu «juflen», prüft sie heute bei jeder Anfrage, ob es zu ihr passt. Ein solch stimmiger Ort ist etwa das Theater Matte, wo sie aktuell in Molières «Tartuffe» Mariane darstellt.
Nicht «wieder gut»
Seit Jahren schon kennt und liebt die Oberländerin Hinterkappelen. «Ich hüte regelmässig die Kinder einer Familie in der Aumatt», erzählt sie. Eines Tages erfährt sie per Zufall von einer freien Wohnung, die gar nicht offiziell zur Miete ausgeschrieben ist. Eines ergibt das andere, und nun wohnt sie bereits seit zweieinhalb Jahren hier. Sie hat ein neues Zuhause gefunden, einen Rückzugsort, an dem Lieder und Projekte entstehen, und von dem aus sie wieder auf die Bühnen findet. «Jetzt ist nicht alles ‹wieder gut›. Es ist anders», beschreibt sie es. Sie sitze wieder Backstage, schminke sich, gehe auf die Bühne, erhalte Applaus. Wie früher. «Aber ich definiere mich nicht mehr über meine Arbeit.» Sarah Luisa Iseli scheint angekommen zu sein. Wenigstens vorerst. Bis ihr das Leben die nächste Leinwand aufstellt, sie wieder zu malen beginnt und das Märchen ins nächste Kapitel geht.