Selektiver Mutismus

Wenn das Sprechen blockiert ist

Salome Guida
Von Salome Guida - Redaktorin
Luis B. zeichnete, wie sich der selektive Mutismus für ihn anfühlt.

Foto: Foto: zvg

Einfach erklärt
Bei selektivem Mutismus können Kinder (und Erwachsene) nicht sprechen, auch wenn sie wollen. Es ist eine Angststörung. Je früher die Therapie beginnt, desto besser kann sie behandelt werden.
Die heute sechseinhalbjährige Nina* ist daheim ein Kind, wie man sich Kinder vorstellt: Sie plaudert, singt, streitet sich mit ihrer älteren Schwester und erzählt den Eltern von ihren Erlebnissen. So fallen ihre Eltern aus allen Wolken, als die Kita-Mitarbeitenden sie fragen, warum die Kleine noch nicht sprechen gelernt habe.

Denn an ihren zwei Tagen in der Einrichtung bleibt sie stumm, verständigt sich nur mit Nicken oder Kopfschütteln. Im Kindergarten führt sich das Muster fort: Nina spricht mit einer Freundin, die ihr als Sprachrohr dient, mit den Lehrerinnen hingegen nicht. Erst eine Internetrecherche führt die Eltern zum selektiven Mutismus: Betroffene können in manchen Situationen nicht sprechen, obwohl sie gerne möchten. Sie haben eine relativ selten vorkommende, angstbedingte Kommunikationsstörung, die meist schon im frühen Kindesalter auftritt –  nach vollzogenem Spracherwerb. 

Ängste abbauen

Die Freundin, «das Sprachrohr», kommt nach einem Jahr in die erste Klasse. Nina hat nun Panik vor dem Kindergarten, rennt davon und den Eltern hinterher. Erst, als sie die Klasse wechseln kann und dort vertraute Gesichter findet, beruhigt sich die Situation. Die schulische Heilpädagogin rät dennoch zur Abklärung und verweist auf Laura Schaerer. Die Berner Logopädin, die während acht Jahren an der Schule Tscharnergut sowie an den Schulen Statthalter und Stöckacker  tätig war, hat sich nämlich auf selektiven Mutismus spezialisiert. «Die Störung darf nicht mit Schüchternheit verwechselt werden. Denn schüchterne Kinder tauen irgendwann auf, bei ihnen ist es ein Temperamentsmerkmal. Bei jenen mit Mutismus hingegen hat das Schweigen nichts mit ihrem Charakter zu tun, sondern ist ein Bewältigungsmuster für eine angstauslösende Situation mit Sprecherwartung», erklärt sie. In der Therapie setzt sie ihre Klienten auf spielerische Art und Weise schrittweise ihren Ängsten aus, um diese dann abzubauen. So wird zuerst der Mund «aufgeweckt», etwa mit dem Seifenblasenspiel oder dem Nachahmen von Tiergeräuschen. Ist die Sprache im Therapiesetting einmal aufgebaut, geht es darum, das Sprechen hinauszubringen. 

«Wo ist das WC-Papier?»

Auch Luis B. übte während anderthalb Jahren mit Laura
Schaerer, ausserhalb des vertrauten Rahmens zu sprechen. Von klein auf hatte er Mühe mit sozialen Situationen gezeigt, verweigerte das Sprechen. Dennoch kam er gut durch die Schule, da er im direkten Kontakt mit den Lehrpersonen Antwort gab. Als der junge Mann aus der Region ins Gymnasium übertrat, merkte er aber, dass er Hilfe brauchte. Mit Schaerer zusammen musste er etwa im Denner fragen, wo das WC-Papier sei, oder in einem Geschäft anrufen und eine Frage zu einem Artikel stellen. «Inzwischen schaffe ich das ohne Probleme», sagt er stolz. Er ist nun 18 Jahre alt und hat soeben die Matura bestanden. Bei ihm zeigt sich die Angststörung vor allem dann, wenn mehrere Personen involviert sind. «Ich bin dann unsicher und weiss nicht, ob mein Beitrag wirklich erwünscht ist.» Noch heute spricht er eher leise und manchmal stockend. Doch er kommt gut durchs Leben, freut sich auf sein Zwischenjahr und die anschliessende Ausbildung zum Illustrator. Auch seine Mutter ist zuversichtlich. Und doch schwingt Bedrücktheit mit, als sie sagt: «Ich wünschte, er hätte Freundschaften, könnte mehr mit anderen zusammen sein.» Luis ist Teil einer katholischen Jugendgruppe und ist in einer Comics-Interessensgruppe aktiv – dort aber mehrheitlich online. Er ist gern mit Menschen zusammen, die dieselben Interessen teilen. «Dann weiss ich, worüber ich reden kann.» 

Ursache ist komplex

Warum bleibt bei manchen Kindern der Mund zu, während andere unbeschwert drauflosplappern? Die Ursache für ein Auftreten von selektivem oder auch elektivem Mutismus – es werden beide Begriffe verwendet – ist nicht genau bekannt. Es scheint eine genetische Disposition dafür zu geben; stilles, gehemmtes Verhalten und Fälle von Mutismus kommen oft in den Familien vor. Ein Trauma in der Kindheit hingegen, das weiss man heute, kommt als Grund nicht in Frage – auch ist es nicht die Schuld der Eltern. Biologische Faktoren wie eine Hyperaktivität des Angstzentrums im Gehirn oder eine Hypokonzentration des Serotonins sowie psychologische Anteile führen zur Sprechblockade – meist sind es mehrere Einflüsse zusammen. Mehrsprachigkeit oder ein Migrationshintergrund sind Risikofaktoren. Doch, so Schaerer: «Mutismus ist behandelbar und die Therapie führt in den meisten Fällen zur Auflösung des mutistischen Verhaltens, besonders bei früher Erkennung und Therapie.»

«Wir haben grosse Hoffnung, dass es gut kommt», betonen Ninas Eltern. Die Berner Familie ist mit Logopädie bei Laura Schaerer und Psychomotorik in der Schule gut eingebunden. Die Anfangszeit im Kindergarten ist zum Glück überwunden. «Ich dachte, wir hätten erzieherisch versagt, und machte mir Schuldgefühle», schaut die Mutter zurück. Da sie noch nicht so bekannt ist, hören viele Familien erst in der Schulzeit – manchmal auch dort erst nach Jahren – von der Angststörung. Manchmal würden die Kinder als asozial oder schlecht erzogen angesehen, musste Ninas Mutter erfahren. Sie ist froh, dass die Prognose besonders bei frühzeitiger Therapie gut ist. Denn es geht um mehr als nur ums Sprechen, wie Schaerer zusammenfasst: «Die Sprache ist der Zugang zur Welt und zu den Menschen, zu unseren Gefühlen, Gedanken und letztlich zu uns selbst.»

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