Kolumne

Von der Schweiz und den Schatten des Lebens

Marmar Ghorbani
Marmar Ghorbani verneinte den Kauf einer Rose – um ihren Prinzipien treu zu bleiben.

Foto: zvg/EE

Einfach erklärt

Marmar Ghorbani lebt seit 2017 in Bern West. Sie stammt aus Persien, dem heutigen Iran. Sie schreibt hier über Alltagssituationen, die sie berühren, irritieren und auch mal schmunzeln lassen.

Kolumnistin Marmar Ghorbani hilft Menschen gerne. Sobald es aber für einen Gott ist, geht es gegen ihre Prinzipien.

Ich kam aus dem Hauptbahnhof, überquerte die grüne Ampel am Bahnhofplatz und ging an der Heiliggeistkirche vorbei. Diese Kirche mag ich besonders, weil ich sie mit meiner Mutter besucht habe, als sie mich zum ersten  und bisher einzigen Mal hier in der Schweiz besucht hat. Als sie nach dem grossen Gästebuch auf einem Tisch voller Kerzen vorne fragte, sagte ich ihr, dass die Leute ihre Wünsche, Gebete oder ähnliche Botschaften darin aufschreiben. Ich hatte auch in anderen Kirchen solche Gästebücher gesehen, in denen Kinderzeichnungen als illustrative Wünsche oder Erinnerungen an ihre Tagesausflüge in die Stadt zu sehen
waren.

Zu meiner Überraschung entschied sich meine Mutter, auch etwas aufzuschreiben, natürlich auf Persisch. Sie kümmert sich nicht viel darum, welche Religion, Regeln oder Götter für sie gelten; sie mag einfach heilige Räume und heilige Dinge. Für die meisten ihrer Wünsche braucht sie wahrscheinlich die Hilfe aller lebenden Götter in verschiedenen Ecken der Welt. Sie würde dasselbe in einem Shinto-Schrein in Japan tun, ohne zu wissen, wie einige der Shinto-Regeln den monotheistischen Religionen widersprechen würden. Diese schöne Kirche im Herzen der Stadt erinnert mich vor allem an den Wunsch meiner Mutter, der vielleicht völlig ausserhalb der Autorität ihres heiligen Gremiums liegt.

Ich erreichte die rechte Ecke der Kirche auf der Spitalgasse, wo es für Bus- und Tramfahrer wahrscheinlich weniger angenehm ist. Ich hatte eine gedankliche Einkaufsliste mit Dingen, die ich eines Tages vielleicht brauchen könnte. Eine der beiden Frauen, die in meinem Blickfeld Rosen verkauften, kam auf mich zu. Die Frauen waren blond und im mittleren Alter. Sie verkauften nicht nur Blumen – sie bettelten praktisch die Passanten an, sie zu kaufen. Ich war kurz davor, eine zu kaufen, aber dann dachte ich: Wie kann ich einkaufen oder einen Schaufensterbummel machen, während ich die ganze Zeit eine Rose halte? Während ich nachdachte, sagte die Frau – auf Deutsch, nicht besser als meins – «Bitte kaufen Sie, um Gottes willen!» Das war der Moment, in dem ich entschied, keine Rosen von ihr zu kaufen. Ich tue einfach nie etwas für irgendeinen Gott. Ich lernte in meinem Leben viele Götter kennen. Sie waren alle nett, aber mit vielen schrecklichen Gläubigen. Wie auch immer, ich helfe Menschen, um zu helfen, oder tue gute Dinge, einfach um mich selbst besser zu fühlen. Ich glaube, dass Menschen genug Gutes tun sollten, um das Böse auszugleichen, das von der Mehrheit getan wird. Also sagte ich sofort: «Tut mir leid, ich kann jetzt nicht.» Daraufhin rief sie fast frustriert: «Nur für Gott, nicht für mich.» Und ohne nachzudenken, fand ich mich dabei, mich zu verteidigen: «Ich glaube nicht an deinen Gott.» Meine Worte liessen sie in stummem Erstaunen zurück, ungläubig oder vielleicht sogar ein wenig verletzt. Ich bin mir nicht sicher, ob es daran lag, dass sie nicht glauben konnte, jemand würde ihren grossen Gott missachten. Oder war es, weil ihr Geschäftstrick fehlgeschlagen war. Die Rosen noch in der Hand blieb sie still stehen und beobachtete mich, wie ich weiterging. Ich fühlte mich etwas schlecht, aber ich hätte mich schlechter gefühlt, wenn ich die Rosen, entgegen meiner Prinzipien, gekauft hätte.

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