Es war ein angenehmer Samstagnachmittag, deutlich wärmer, als es einem echten Schweizer recht gewesen wäre. Ich kam aus dem unterirdischen Bereich des Berner Hauptbahnhofs die Treppe hinauf zum Bubenbergplatz und lächelte in die Sonne zurück. Als ich mich umsah, auf welcher Seite ich gehen möchte, kam ein junger Mann auf mich zu und fragte in Schweizerdeutsch nach ein paar Münzen – wahrscheinlich für Bier. Er war in legerer, gepflegter Kleidung, sah ziemlich attraktiv aus und roch nach Alkohol; sehr penetrant. Ich schüttelte den Kopf, was «Nein» bedeutete, und sagte mit einem höflichen Lächeln: «Ich helfe Menschen nicht auf diese Weise, es tut mir leid.» Ich muss einen starken Akzent und einen auffälligen Grammatikfehler in meinem kurzen Satz gehabt haben, denn er wechselte ins Englische und sagte mit einem Lächeln: «Are you Spanish?» Ich schüttelte den Kopf und sagte: «Nein.» Worauf er fragte: «Portuguese?» Ich entgegnete erneut: «Nein.» Ich weiss nicht, warum ich ihm nicht richtig geantwortet habe, und auch nicht, wie er gemerkt haben könnte, dass ich nicht wollte. Dann sagte er mit einem freundlichen Lächeln und in fliessendem Englisch: «Okay, no problem, have a nice day!» Dann ging er an mir vorbei, und es war zu spät, ihm ein paar Münzen zu überreichen oder wenigstens zu sagen, woher ich komme. Ich blieb regungslos stehen und sah dorthin, wo er verschwunden war, dann in Richtung der Kleinen Schanze. Einen Moment lang fühlte ich mich wie ein unhöflicher Gast in seiner Heimat: ohne Geschenk, ohne Worte. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich all diese Jahre hart gearbeitet und alle meine Steuern gerne bezahlt hatte. Also war ich zumindest eine gute Einwanderin gewesen, wodurch ich mich etwas besser fühlte. Doch ich fühlte mich immer noch ein wenig wie eine respektlose Ausländerin. Dieser bittersüsse Vorfall bestimmte meinen ganzen Nachmittag beim Schaufensterbummel, und ich habe wahrscheinlich viele Rabattvitrinen verpasst. Wie schade! Aber was für eine Welt: Ich war meinem Leben entkommen, indem ich in die Schweiz ging, und er entkam der Schweiz, indem er sich dem Alkohol zuwandte. Wie rätselhaft es ist, wie Menschen gegen die Härten des Lebens ankämpfen.
Zur Person
Marmar Ghorbani stammt aus Persien und lebt seit 2017 im Stadtteil VI in Bern. Sie arbeitet als Chemieingenieurin in Bern, früher in Finnland und Österreich. Zuvor dozierte sie in den Ingenieurwissenschaften, auch ein wenig, um gegen das Patriarchat zu kämpfen. Doch ein grosser Teil ihres Herzens schlägt für die Literatur. Sie ist überzeugt, dass die Lebensqualität der Frauen das deutlichste Zeichen einer fortschrittlichen Gesellschaft darstellt.