Die Schule sollte ein freier, sicherer Raum für junge Menschen sein. Dies scheint aber nicht für alle zuzutreffen, wie eine Studie zu Deutschschweizer LGBTQ+-Jugendlichen zeigt. Die Resultate sind beklemmend: Von 569 queeren Jugendlichen, die an der Umfrage teilgenommen haben, fühlt sich mehr als die Hälfte unwohl oder sogar unsicher in der Schule. Und das aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechts oder Geschlechtsausdrucks. Die 14- bis 19-Jährigen berichten von Abwertung und Ausschluss, Unsicherheitsgefühlen, von wenig sensibilisierten Lehrpersonen und negativen Kommentaren.
Angst und Unbehagen
Als unangenehmste und unsicherste Orte in der Schule werden die Umkleideräume und der Sportunterricht genannt. Bemängelt wird, dass es oft keine geschlechtsneutralen Toiletten gebe. Weitere Ergebnisse unterstreichen, dass die Jugendlichen oft negativen Bemerkungen von Lehrpersonen oder Gleichaltrigen ausgesetzt sind. Auf das Eingreifen durch Lehrpersonen wird oft vergebens gewartet. Vorfälle von Belästigungen und Übergriffen zu melden, kommt für die Mehrheit der Jugendlichen jedoch nicht in Frage. Zu gross ist die Angst vor ungewollter Aufmerksamkeit oder Beurteilungen, zu klein die Aussicht auf Erfolg. Oft bleibt es jedoch nicht bei Unbehagen oder Angst. Fast die Hälfte der Teilnehmenden blieben deshalb im letzten Monat zuhause und fehlten in der Schule, jede vierte Person sogar vier oder mehr Tage. Neben dem Schulklima wurden auch Fragen zum Unterricht und zu seinen Inhalten gestellt. Eine Mehrheit der Jugendlichen geben an, dass sie Themen zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt als wenig präsent wahrnehmen. Kommen sie dennoch vor, seien diese oft negativ
behaftet.
Gleichberechtigung für alle?
«Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass die Institu-tion Schule in der Deutschschweiz die gleichberechtigte Förderung und Entwicklung von LGBTQ+-Jugendlichen vernachlässigt. Die Teilnehmenden berichten von Abwertung, Diskriminierung und Unwohlsein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder des Geschlechtsausdrucks», sagt Ad J. Ott der PH Bern, eine der leitenden forschenden Personen des Projekts. In der Studie, die im Rahmen des Projekts «SOGUS – Sexuelle Orientierung, Geschlecht und Schule», das von Anfang 2022 bis Ende 2024 dauert, untersuchten Forschende der Universität Bern und der Pädagogischen Hochschulen Bern und Zürich die Erfahrungen von Deutschschweizer LGBTQ+-Ju-gendlichen in der Schule. Das Projekt begann mit Workshops zusammen mit queeren Jugendlichen. Mit ihren Antworten wurde schliesslich ein Fragebogen zum schulischen Wohlbefinden und zur psychischen Belastung entwickelt, den die Teilnehmenden der Studie im Herbst 2022 anonym ausfüllten.
Haltung der Schule zentral
20 Prozent der Jugendlichen, die an der Umfrage teilgenommen haben, wohnen im Kanton Bern. Wie viele aus dem Verteilgebiet dieser Zeitung sind, konnten die Studienleitenden nicht beantworten. «Wir haben den Wohnort nur grob erfragt. Deshalb wissen wir nicht, ob es auch aus Bern West Teilnehmende gab», erklärt Ad J. Ott. Die meisten von ihnen leben im urbanen Raum, sind laut Geburtsurkunde weiblich und die Hälfte davon besucht ein Gymnasium. Was aber nicht heisst, dass es im ländlichen Raum keine queeren Menschen gibt, im Gegenteil, beteuert Ad J. Ott. «LGBTQ+-Jugendliche gibt es natürlich in allen Gegenden. Tendenziell ist es aber so, dass Normen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in urbanen Gegenden weniger stark sind. Somit trauen sie sich in diesem Umfeld mehr, sich zu outen.» Ob in Schulen aber sexuelle und geschlechtliche Vielfalt akzeptiert und ihr unaufgeregt begegnet wird, hänge stark von den Haltungen der jeweiligen Schulleitungen und des Lehrerkollegiums ab. Und zwar unabhängig vom urbanen oder ländlichen Umfeld.
Verbundenheit als Ressource
In der Studie kam es aber durchaus auch zu einigen positiven Ergebnissen. Zwei Drittel der Jugendlichen gaben an, dass sie sich von mindestens einer Person des Schulpersonals unterstützt fühlen, was das Thema LGBTQ+ angeht. Während Geschlechteridentitäten als wenig präsent im Schulmaterial wahrgenommen werden, scheint die sexuelle Orientierung thematisiert zu werden. Sie komme nun auch öfter im Unterricht vor und werde auch in den Schulrichtlinien gegen Mobbing immer häufiger festgehalten, gaben die Jugendlichen an. «Gleichzeitig nehmen die LGBTQ+-Jugendlichen ihre Verbundenheit mit anderen LGBTQ+-Personen als Ressource wahr», erklärt Ad J. Ott.
Raum für Vielfalt
Die Schule scheint oft noch kein Ort zu sein, an dem alle Jugendlichen sich selbst sein können, an dem Vielfalt nicht nur auf dem Papier gilt, sondern eben auch im Alltag möglich ist. Damit LGBTQ+-Jugendliche den nötigen Raum und die nötige Sicherheit in der Schule erhalten, bräuchte es weitere Sensibilisierung. Dort setzt die Studie an, erklärt Ad J. Ott. «Im Rahmen eines Wahlfachs an einer Pilotschule sind im Praxisteil des Forschungsprojekts mögliche schulische Angebote zum Thema Vielfalt entstanden. Diese liegen bis Ende des Jahres fertig vor und werden dann veröffentlicht. Zusätzlich findet im November eine Tagung zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Schule statt. Die Zielgruppe ist das Schulpersonal.»
Komplexe Situation
Schulen in Bern West scheinen sensibilisiert zu sein. Schwierigkeiten der Thematik gegenüber gibt es dort aus anderen Gründen. «Im Schwabgut gehen Kinder und Jugendliche aus 70 unterschiedlichen Nationen in die Schule. Queer-Sein ist nicht in allen Kulturen akzeptiert», erklärt der Schulleiter Markus Gerber. Es sei deshalb eine schwierige Aufgabe, queere Jugendliche zu unterstützen und sie dadurch nicht in unangenehme Situationen zu bringen. Die Schülerschaft sei aufgeklärt, dass sie sich für Themen rund um sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität jederzeit bei der Schulsozialarbeiterin oder beim TOJ (Trägerverein für die offene Jugendarbeit der Stadt Bern) gleich neben der Schule melden können. «Auch die Stadt Bern legt viel Wert auf Sensibilisierung zu diesem Thema», erklärt Gerber. So sei es auch im Konzept der Stadt, dass bei Sanierungen von Schulhäusern sämtliche Toiletten genderneutral gebaut würden. Bastian Stalder, der Schulleiter des Schulhaus Bümpliz, bestätigt ebenfalls, dass sich die Sensibilität auf das Thema in den letzten Jahren erhöht habe, man jedoch sehr behutsam damit umgehen müsse. «Unterschiedliche sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten werden bei uns im Sexualkundeunterricht aufgegriffen und altersgerecht vermittelt. Das stelle ich mit Freude fest.» Als Schule müssten sie aber auch beachten, dass einige Eltern und Kulturen anders auf dieses Thema schauen. «Negative Reaktionen gibt es teilweise durch Jugendliche, vor allem aber durch einige Eltern», so Stalder. Der Schulleiter ist sich aber sicher, dass diese Themen für sie als Schule immer aktueller würden – gerade auch, weil sie in der Gesellschaft immer breiter abgestützt sind.
Einige Wörter im Überblick (die Liste ist unvollständig)
LGB+:
bezieht sich auf die sexuelle Orientierung. Also zum Beispiel lesbische, schwule, bisexuelle Personen. Das + schliesst weitere Selbstdefinitionen mit ein.
Trans (auch trans*, transgeschlechtlich):
Personen, deren Geschlechtsidentität abweicht vom Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Queer:
Selbstbezeichnung von Personen, deren Identität und/oder Verhaltensweisen von heteronormativen Erwartungen abweichen. Weiter wird queer als Überbegriff für Personen benutzt, die nicht in die romantischen, sexuellen und/oder geschlechtlichen Normen der Gesellschaft passen.
Nicht-binär (auch nonbinary, non-binär):
Personen, die nicht (nur) Mann oder Frau sind.
Heteronormativität:
beschreibt erstens die Norm, dass es nur zwei Geschlechter (Frau und Mann) gibt, die sich biologisch und sozial klar unterscheiden (Zweigeschlechtlichkeit). Zweitens wird davon ausgegangen, dass nur diese zwei Geschlechter sich begehren (Heterosexualität).
Cis (auch cisgeschlechtlich):
Personen, deren Geschlechtsidentität übereinstimmt mit dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde. Das Gegenstück von cis ist trans.