Forschungsprojekt «Vielfältiges Quartier für alle»

Nährboden für mehr Beteiligung

Nadia Berger
Von Nadia Berger - Redaktorin
Quartierbewohnende, die Essen und Erinnerungen miteinander teilen.

Foto: zvg/Simon Boschi

Einfach erklärt
Ein Forschungsteam der Berner Fachhochschule untersuchte, wie sich in Bern West möglichst viele Menschen am Quartierleben beteiligen können.
Wie kann Beteiligung und Mitbestimmung im Quartier gelingen – und wie lassen sich möglichst alle Menschen, unabhängig von sozialer Schicht und Herkunft, einbinden? In Bern West haben die Verantwortlichen des Forschungsprojekts «Vielfältiges Quartier für alle» in den letzten zwei Jahren Antworten darauf gesucht – mit einem transdisziplinären Ansatz, kreativen Mitteln und vor allem: mit den Menschen vor Ort.

Je mehr Menschen das Gefühl haben, unmittelbaren Einfluss auf die eigene Wohnumgebung zu haben, desto höher ist ihre Lebensqualität. Ihre Teilnahme am Quartierleben ist jedoch abhängig von verschiedenen Faktoren, wie Mehrfachbelastungen oder hohen Arbeitspensen. Das Ziel des Projekts «Vielfältiges Quartier für alle» war es deshalb, niederschwellige und diversitätssensibel gestaltete Beteiligungsmöglichkeiten auszuprobieren und damit das Gefühl des eigenen Einflusses auf das Quartier in Bern West zu stärken. «Vielfältige Lebensrealitäten erfordern vielfältige Formen der Teilhabe», erklärt Projektleiterin Simone Gäumann von der Berner Fachhochschule. «Gerade in Quartieren mit einer grossen Diversität ist es wichtig, die Hürden von Beteiligung und deren Ausgestaltung genauer zu untersuchen.»

Vier Interventionen 

Zusammen mit Fachpersonen und Menschen aus dem Quartier wurden im Projekt vier thematisch unterschiedliche Interventionen als Beteiligungsformate entwickelt. Die ersten beiden wurden vor über zwei Jahren bereits in dieser Zeitung vorgestellt. Im Mai 2023 machte der Glockenturm im Tscharni den Auftakt. Mit dem Ziel, das Liederrepertoire des Glockenspiels zu erweitern und somit die Vielfalt im Quartier zu unterstreichen. Im Rahmen der zweiten Intervention begleitete das Projektteam eine initiative Gruppe von Menschen aus dem Untermattquartier. Ziel: Orte der Begegnung schaffen, einen offenen Austausch über die Vielfalt der Quartiererlebnisse fördern und Ideen für neue Begegnungsorte entwickeln. Die dritte Intervention hatte das Ziel, auf die unsichtbare und doch so wertvolle Integrations- und Carearbeit im Stadtteil VI aufmerksam zu machen. «Der Eindruck von Fachpersonen war, dass diese Themen in Bern West noch wenig präsent sind», erklärt Gäumann. Gerade auch Spielgruppenleitungen leisten, weit über ihre pädagogische Arbeit hinaus, wichtige Arbeit zur Teilhabe von Familien in Bern West. So unterstützen sie beispielsweise Familien bei Hürden im Alltag, etwa beim Ausfüllen von Formularen. Um ihre Arbeit zu würdigen, wurden vor den Spielgruppen auf Plakaten Porträts der Spielgruppenleitungen sowie Zahlen und Informationen rund ums Thema Carearbeit platziert. Die vierte Intervention widmete sich dem Thema Essen und Erinnerungen. Das Projektteam arbeitete dazu mit dem UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) zusammen, das zum Welternährungstag das Festival «Taste of Home» veranstaltete. «Viele Menschen mit Migrationserfahrung können gut kochen und sind gerne in der Rolle der Gastgebenden. Es gibt jedoch wenige Gelegenheiten, diese Fähigkeiten zu zeigen.» So wurden bei einem Znacht mit drei verschiedenen Stationen fleissig Erinnerungen und Erfahrungen ausgetauscht und geteilt. Übers Essen, das in der Kindheit eine Rolle gespielt hatte, über die eigene Flucht bis hin zu Gerichten, die  in Verbindung mit Ankommen an einem neuen Ort stehen. «Es kamen insgesamt um die 50 Personen unterschiedlichen Alters und mit und ohne Fluchthintergrund, die voneinander profitiert haben», so Gäumann.

Wie geht es weiter?

Von November bis Januar wurden alle vier Interventionen  durch die Projektbeteiligten ausgewertet. Ein zentrales Fazit: Emotionale, sinnliche und alltagsnahe Zugänge ermöglichen Beteiligung auf Augenhöhe – gerade für Menschen, die sich sonst wenig einbringen. «Themen wie Musik oder Essen schaffen Nähe und Vertrauen. Sie geben Menschen eine Stimme, die sonst oft überhört werden. Denn zu diesen Themen können sich alle äussern», sagt Gäumann. Sie hätten es geschafft, über diesen längeren Zeitraum eine Stimmung von gelebter Partizipation herzustellen, sichtbar im öffentlichen Raum zu sein und somit einen Nährboden für Beteiligung herzustellen. Auch gelungen sei es, neue Menschen in der Bevölkerung zu erreichen – nicht nur die bereits Engagierten und Vernetzten. Und was heisst das nun für Bern West? «Die durchgeführten Veranstaltungen zeigten, dass Orte, wo man zusammenkommen und essen kann, ein Bedürfnis sind», so Gäumann. Durch die Entwicklung der Interventionen seien Grenzen und Erweiterungsmöglichkeiten von Beteiligung diskutier- und bearbeitbar geworden. Ausserdem habe es eine Verständigung über unterschiedliche Voraussetzungen und Bedingungen gegeben, damit Teilhabe überhaupt möglich wird. Diese Ergebnisse werden nun vom Projektteam aufgearbeitet und mit theoretischen Annahmen verbunden. «Das Ziel ist nun, zentrale Aspekte von Beteiligunsgmöglichkeiten herauszuarbeiten, von denen möglichst unterschiedliche Menschen angesprochen werden. Daran sollen sich andere Fachpersonen zukünftig orientieren können.» Die Ergebnisse sollen schliesslich als Inspirationsquelle für weitere solche Vorhaben  in Bern West oder in anderen Stadtteilen dienen.

Aufwändig, aber wirksam

Das Projekt orientiert sich an einem transformativen und partizipativen Forschungsansatz. «Wir forschen nicht über Menschen, sondern mit ihnen», meint die Expertin. Diese Art der Forschung ist aufwändig und voraussetzungsreich. Sie erfordert viel Vertrauen, langfristige Netzwerke und Offenheit für Unvorhergesehenes – und ist dafür aber umso wirksamer, da so alltagsnah geforscht wird. Ein zentraler Punkt des Projekts war auch die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Beteiligungsformaten und ihren Zugangsmöglichkeiten. «Oft sind diese zu stark an der Mehrheitsgesellschaft orientiert – sprachlich, formal, kulturell», so Gäumann. Visuelle Elemente, niederschwellige Zugänge und Themen nahe an der Lebenswelt der Leute seien entscheidend, um alle zu erreichen. Denn oft seien sich Veranstaltende nicht bewusst, wie hürdenreich solche Zugänge sein können. Und wer sich ausgeschlossen fühlt, schweigt – und bleibt damit unsichtbar. 

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