Neben der Waschküchenordnung oder falsch geparkten Velos im Eingang ist in Wohnblöcken oft der Lärm ein Hauptdiskussionspunkt. Zu laute Musik, Kindergeschrei, TV oder Schnarchen – durch dünne Wände lebt man oft näher mit der Nachbarschaft zusammen, als einem lieb ist. Das kann stören oder amüsieren. Doch was, wenn die Geräusche aus der Nebenwohnung bedrohlich werden? Lautstarke Konflikte, Schreie, Türknallen oder unerklärbarer Lärm lassen oft ein mulmiges Gefühl zurück. In Fällen von häuslicher Gewalt Position beziehen und sich einmischen ist oft mit viel Unsicherheit verbunden. «Es ist sicher wichtig, dass man klar Nein sagt zu Gewalt», macht Eva Hauser deutlich. Sie ist seit 2022 verantwortlich für das Projekt «Tür an Tür». Als eines von wenigen Angeboten richtet sich dieses nicht an Menschen, die direkt von häuslicher Gewalt betroffen sind, sondern an das Umfeld. Nachbarinnen, Kioskverkäufer, Coiffeusen, Quartierarbeiter. «Wir sprechen nicht Betroffene von häuslicher Gewalt an, sondern das sozialräumliche Umfeld der Betroffenen», beschreibt Hauser die Grundidee. «Wir wollen Alarmglocken aktivieren, mehr Wissen schaffen und weitergeben zu häuslicher Gewalt.» Es solle möglich sein, dass Betroffene niederschwellig zu Unterstützung kommen, auch durch Sensibilisierung in der Nachbarschaft.
Werkzeugkasten an Wissen
Bereits vor dem Coronaunterbruch wurde der Grundstein für das städtische Pilotprojekt gelegt, richtig Fahrt aufgenommen hat es vor gut einem Jahr. Workshops, Aktionstage, Informationsveranstaltungen – das Thema stösst auf offene Ohren und interessierte Gemüter. Dies auch dank dem weit verzweigten und gut eta-blierten Netzwerk der Quartierarbeit Bern West. Quartierarbeiterin Annkatrin Graber ist seit Beginn diese Jahres mit an Bord, das Projekt liegt ihr am Herzen. Sie selbst kennt die Unsicherheit im Umgang mit Verdacht auf häusliche Gewalt. «Mir gaben die Informationen Sicherheit. Es ist wie ein Werkzeugkasten an Wissen, um den ich sehr dankbar bin», so Graber. Sie ist überzeugt: «Das Thema kann angesprochen werden, wenn mehr Wissen da ist.»
Ansprechen ja, aber wie?
«Ganz wichtig ist: Es gibt kein Rezept», beruhigt Hauser. «Wir geben Handlungsideen mit, aber es braucht immer individuelle Einschätzungen, etwa zur eigenen Befindlichkeit, zur Situation, zu den Betroffenen.» In akuten Situationen, wenn in der Nachbarswohnung die Fetzen fliegen, kann ein Eingreifen durchaus Mut brauchen. Wer es sich zutraut: Klingeln und höflich formulieren, dass man Lärm gehört hat und sich Sorgen macht. Höflich bleiben, Ich-Botschaften äussern, keine Vorwürfe machen. Man könne sich auch jederzeit wieder aus der Situation entfernen, wenn man sich nicht wohl fühle, so Hauser: «Es gibt dort nichts zu gewinnen, es geht darum, die Situation zu unterbrechen.» Bei Bedenken zur eigenen Sicherheit soll man auf jeden Fall die Polizei rufen und man kann sich anschliessend in einer ruhigen Minute bei Fachstellen beraten lassen. Ist die Eskalation vorbei und trifft man die betroffenen Nachbarinnen und Nachbarn auf der Strasse oder im Treppenhaus, kann man ebenfalls etwas bewegen. Eva Hauser und Annkatrin Graber ermutigen die Menschen, auch hier den Austausch zu suchen. Empfohlen wird, Betroffene möglichst zeitnah zur Konfliktsituation anzusprechen. Und zwar alleine, unabhängig davon, mit welcher der beiden Parteien man spricht. «Wichtig ist es, konkrete Hilfsangebote zu machen», so die beiden Expertinnen. Soll gemeinsam bei einer Fachstelle angerufen werden? Was wünschen sich Betroffene in einer nächsten eskalierenden Situation? Überreden und Drängen sollte man auf jeden Fall vermeiden. «Es sind feine Sachen, die den Unterschied machen können», ist Graber sicher. Das Angebot, dass sich Betroffene jederzeit melden dürfen, wenn sie etwas brauchen, kann bereits viel bewegen.
In allen Schichten
Das Pilotprojekt «Tür an Tür» blickt nach ermutigenden Aktionstagen im Februar – zahlreiche Quartierläden und Gruppen machten mit Plakat- und Flyerwerbung aktiv mit – auf weitere Einsätze bis Ende Jahr. Quartierarbeiterin Annkatrin Graber wünscht sich, dass das Angebot weiterhin präsent und sichtbar bleibt, in Form von Workshops für interessierte Gruppen, aber auch an Events im ganzen Stadtteil. Dass «Tür an Tür» gerade in Bern West gestartet wurde, ist kein Zufall. Das Quartier verfügt über ein sehr grosses, breit gefächertes und gut funktionierendes Netzwerk an sozialräumlichen Angeboten und Gefässen, die man für die Umsetzung gut nutzen konnte. Dass es in den anderen Berner Stadtteilen ebenso Bedarf an Sensibilisierung und Aufklärung gibt, steht ausser Frage. Schliesslich kommt häusliche Gewalt in allen Schichten, Lohnklassen und Kulturen vor. Das Ziel ist es darum, nach dem Ende der Pilotphase in weiteren Quartieren der Stadt Bern die Menschen dazu aufzurufen, Mut zu zeigen und bei häuslicher Gewalt in der Nachbarschaft hinzuschauen.
Weitere Infos und unterstützende Fachstellen www.bern.ch/tuerantuer