Es ist fast eine andere Welt. Stolz thront der Erlacherhof als Regierungszentrum der Schweizer Hauptstadt – wie ein Mahnmal bernischer Bourgeoisie. Die Häuserschluchten von Bethlehem, sie wirken weit weg. Doch keiner kann diese Distanz schneller verringern als der amtierende «Stapi». «Es gibt keine schönere Einfahrt in die Stadt Bern, als jene vom Stadtteil VI aus», ist sich von Graffenried sicher. Seine Beschreibung ist präzise und gespickt mit Einzelheiten. Er vergleicht die Gäbelbachhäuser mit Schiffen, seine Worte entführen die Zuhörer in Sekundenschnelle aus dem altehrwürdigen Sandsteingebäude.
Mehr als nur eine Chilbi
Und zwar radelnd Richtung Bümplizer Chilbi: «Seit sieben Jahren habe ich keine Eröffnung verpasst», freut sich von Graffenried. Und in diesem Jahr war sogar der ganze Gemeinderat von Bern zur Eröffnung anwesend. Organisator Kevin Bachofner wird prompt ein gutes Zeugnis ausgestellt. Fürs Protokoll: Es gibt wohl nicht so viele Chilbis, welche die gesamte Regierung in ihren Bann ziehen. Da muss man vermutlich bis ans Münchner Oktoberfest reisen, um eine ähnliche Bedeutung vorzufinden. Ein gewagter Vergleich? Nicht unbedingt, denn die Chilbi symbolisiert das Zusammenkommen eines Stadtteils, dem der Stadtpräsident eine hohe Bedeutung beimisst. «Ein lebendiges Quartier mit Läden, Plätzen und Restaurants ist wichtig für das Wohlbefinden. Diese ‹Verdörflichung der Stadt› erleben wir in allen Quartieren, in Bümpliz ist sie allgegenwärtig und spürbar», beschreibt von Graffenried. Die Eingemeindung (Fusion) 1918 mit dem damaligen Dorf Bümpliz und Bern liegt über 100 Jahre zurück, doch viele Nationalitäten und Dekaden später ist der Dorfcharakter nach wie vor fühlbar, trotz einer Bevölkerungszahl von unterdessen 35’000. «Man ist in erster Linie Bümplizer und das ist gut so», weiss auch der Stadtpräsident. Jedoch hat sich der Dorfcharakter entwickelt: «Es gibt sogenannte Mehrfachidentitäten. Innerhalb von Bümpliz sind die Quartiere wichtig, sobald man aber aus dem Stadtteil VI rausgeht, sagt man stolz: ich bin aus Bümpliz. In Paris oder Berlin sagt man dann eher: ich bin von Bern! Deshalb ist es wichtig, dass auch die Entscheidungsstrukturen so funktionieren. Die Quartierkommissionen spielen für uns eine zentrale Rolle.»
Pionierhaftes aus dem Stadtteil VI
Dass es fast so viele Quartiervereine gibt wie Quartiere, ist Teil der Bümplizer Identität. Eine virtuelle Weiterfahrt auf dem Elektrofahrrad des Stadtpräsidenten an andere Orte im Grossraum Bern verrät schnell, wie reich Bümpliz an Quartierleben und Quartiervereinen ist. Diese Vereine tragen viel zur Entwicklung und Beibehaltung des Dorfcharakters bei. Ein Vorteil des Stadtteils ist die Verkehrslage: «Der Stadtteil ist hervorragend erschlossen. Mit den S-Bahnlinien, den Autobahnen, den Tramlinien, der Tangentialverbindung, hier läuft alles gut zusammen, da haben die anderen Stadtteile weitaus mehr Probleme», stellt Alec von Graffenried fest. Und vieles sei erst noch im Begriff zu entstehen. Der Stadtpräsident blickt auf das Projekt Weyermannshaus West und damit auf die Geburtsstunde eines neuen Quartiers nach Bümplizer Manier: «Die zentrale Lage direkt an der S-Bahnstation, unweit vom Europaplatz − der Ort ist wie geschaffen für eine städtebauliche Entwicklung. Ursprünglich lautete die Idee, Dienstleistungsarbeitsplätze zu schaffen, wie im Wankdorf. Aber das wäre etwas monoton, man denke nur an die Wochenenden ohne Menschen vor Ort. Nein, Weyermannshaus West soll Arbeiten und Wohnen beinhalten. Wer in die Stadt will und eine Wohnung sucht, sucht je nachdem lange und findet oft trotzdem nichts. Dagegen müssen wir etwas unternehmen», so von Graffenried. Zirka 800 zusätzliche Wohnungen soll es geben. Rund um das Freibad Weyermannshaus gibt es zahlreiche Entwicklungen, von der Fachhochschule, der Galenica mit dem Spielplatz, dem ewb-BLS-Areal, dem Ausbau der Stöckackerschule bis zur Überbauung Weyer West. Die Stadt Bern hat sich bei diesem Projekt für den Berner Architekten Rolf Mühltaler als Planer entschieden. Aus gutem Grund, findet von Graffenried: «Er hat das Feingefühl, die Stadt aus dem Bestehenden heraus zu entwickeln. Vieles wird stehen bleiben oder es wird daran weitergebaut, es wird umgestaltet, ohne die wichtigen Elemente zu entfernen. Die Identität des Ortes bleibt erhalten.» Das passt zur Mentalität im Stadtteil VI. Deshalb wird derselbe Architekt Mühlethaler auch die Entwicklung in Bethlehem an die Hand nehmen. «Im Dialog mit der Quartierorganisation erfahren wir so die Vorlieben und Spezialitäten der Quartierbevölkerung.» Somit dürfte Rolf Mühlethaler sogar erfahren, dass Bethlehem nicht Bümpliz Nord ist, sondern eben Bethlehem, dass der Bahnhof aber nach wie vor Bümpliz Nord heisst.
Bern ist Hochhausstadt
Nimmt man die wichtigen Elemente des heutigen Entwicklungsschwerpunkts und schaut sich im Stadtteil VI um, stellt man fest: Was heute gefragt ist, hat man vor 50 Jahren genau in diesem Stadtteil schon versucht. «Da war man wohl hier in Bümpliz und Bethlehem der Zeit voraus», stellt von Graffenried fest und kommt auf den Film «Tscharni Blues» zu sprechen: «Es gab ja den Tscharni Blues 2, rund 30 Jahre später. War im ersten Film noch alles grau und deprimierend, so zeichnet der zweite Film ein ganz anderes Bild. Jenes eines friedlichen Miteinanders. Die Verdörflichung der Stadt ist im Tscharni gelungen.» Das eigentlich Brisante ist, dass das Tscharni als Mustersiedlung mit Vorbildcharakter für die ganze Schweiz entwickelt wurde. Bekanntlich kam es anders. Bern hat von 1970 bis 2000 städtebaulich wenig brilliert, zumindest darf man das mit Blick auf die hohen Abwanderungszahlen aus der Stadt, vor allen Dingen bei Familien, vermuten. Heute aber sind solche Quartiere wie das Tscharni genau das, was sie eigentlich von Anfang an hätten sein sollen: identitätsstiftend, lebendig, durchmischt mit allem, was es zum Leben braucht – ein verdörflichter Stadtteil. Um das Tscharni wieder zu verlassen und eine Art Vogelperspektive auf den ganzen Stadtteil einzunehmen: «Bern ist eine Hochhausstadt, nirgends in der Schweiz stehen mehr Hochhäuser als in der Stadt Bern. Der Stadtteil VI hat einen grossen Anteil daran.» Und nun überrascht von Graffenried alle, welche gerne Klischees bedienen. Jenes zum Beispiel, dass der «König» des Erlacherhofs wohl kaum in einer Wohnung in einem solch gewaltigen Komplex leben würde. «Doch», sagt er mit Bestimmtheit. «Die Qualität ist vorzüglich, wenn man so wohnen kann. Meine Frau sagt mir immer mal wieder, wir könnten doch hinüber nach Wittigkofen ziehen, dort gibt es eine hohe Wohnqualität. Sie hat recht. Die Hochhäuser bieten eine der grossen Qualitäten von Bern.»
Und erneut sticht etwas Pionierhaftes aus dem Stadtteil VI hervor. Kein Berlin Kreuzberg, sondern die authentische Identität von Bümpliz und Bethlehem, die so viel Vorzeigecharakter haben, dass Alec von Graffenried zum Schluss meint: «Hier gibt es alles, hier gefällt es mir.» Und wer den Stadtpräsidenten kennt, der weiss, dass Heuchelei nicht sein Ding ist. Er sagt, was er denkt, und hat den Mut auch mal anzuecken. Deshalb darf man ihm getrost glauben, wenn er sagt: «Ich könnte mir vorstellen, hier zu leben.»