Die Anzahl der Beratungen für Frauen, die Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt wurden, hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Für das Jahr 2022 werden für die Auslastung in Frauenhäusern Rekordzahlen vermutet. Betroffene müssen teilweise in Alternativunterkünften wie etwa Hotels untergebracht werden. Diese entsprächen jedoch nicht den Sicherheitsstandards bezüglich Schutz, Begleitung und Unterkunft, weiss Nicole Rubli, Leiterin des Frauenhauses Thun. «Das kann dazu führen, dass die Klientinnen von den Tätern ausfindig gemacht werden, Druck ausüben oder sogar vor Ort erscheinen und sie überreden, wieder nach Hause in die von Gewalt belastete Beziehung zurückzukehren.» Situationen, die vermieden werden könnten, würde es nicht an notwendigen Mitteln mangeln. Seit Jahren sei bekannt, dass es zu wenige Plätze in Frauenhäusern gebe und die Zunahme der Auslastung besorgniserregend sei, meint Rubli. Passiert sei noch nicht viel.
Nationaler Aufruf
So habe die Schweiz im 2017 zwar die Istanbul-Konvention unterzeichnet, die 2018 in Kraft getreten ist. Die Massnahmen gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern seien aber bis heute ungenügend geblieben, meint die Expertin. «Der Bund und die Kantone sind gefordert, genügend Ressourcen bereitzustellen und die Zusammenarbeit zu verbessern.» Allerdings gibt es kantonale Unterschiede. Während in gewissen Kantonen zusätzliche räumliche, personelle und finan
zielle Ressourcen bereitgestellt würden, seien die Frauenhäuser im Kanton Bern aufgefordert worden, möglichst konstenneutral zu handeln. Ein Widerspruch, betrachtet man die hohe Auslastung der verfügbaren Plätze. Betroffen sind auch Institutionen rund um das Verteilgebiet dieser Zeitung, die Frauen und Kinder aus dieser Region aufnehmen. Die Auslastung in den Frauenhäusern Thun und Bern betrug dieses Jahr über 90 Prozent. Empfohlen durch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) wird lediglich eine Belegung von 75 Prozent, damit eine angemessene Betreuung gewährleistet werden kann. Frauenhäuser und Opferberatungsstellen starteten letzten Sommer einen nationalen Aufruf, der auf die prekäre Situation aufmerksam machen soll. Mehr Ressourcen würden auch zum Einsparen allgemeiner Kosten beitragen, meint Rubli. «Immense Gesundheits-, Berufsalltags-, und psychische Folgekosten bei Frauen und Kindern könnten dadurch langfristig reduziert werden.»
Zunahme der Nachfrage gleich Zunahme der Gewalt?
Gründe für die starke Zunahme der Nachfrage bei Beratungsstellen und in Frauenhäusern sind nicht per se eine Zunahme an Gewalt. «Wir bekommen gesellschaftliche Veränderungen mit Verzögerung mit», weiss Rubli. Weiter bedeute die erhöhte Nachfrage auch, dass viele Frauen wissen, an wen sie sich wenden können. «Es zeigt, dass das Angebot von Frauenhäusern bekannt ist und viele den Mut aufbringen, sich zu melden.» Die Auslastung sei repräsentativ für häusliche Gewalt in allen sozialen Schichten und Kulturen. Sie komme überall vor: in der Stadt, auf dem Land, in der Agglomeration. Re-gionale Unterschiede gebe es vor allem in ländlichen Gebieten. «Dort ist die Wahrnehmung der Gesellschaft bezüglich dieses Themas noch wenig ausgeprägt, die Bevölkerung weniger sensibilisiert. Das sagt aber nichts über die dortige tatsächliche Anzahl an Fällen aus», meint Nicole Rubli. Auch, dass fast doppelt so viele der Opfer, die sich bei einem Frauenhaus melden, keinen Schweizer Pass besitzen, bedeute nicht, dass vor allem Frauen mit Migrationshintergrund betroffen seien. «Frauen mit Schweizer Pass haben oft mehr Ressourcen und ein grösseres Umfeld. Somit bieten sich ihnen mehr und andere Möglichkeiten, sich Hilfe und Schutz zu suchen.»
Konkrete Forderungen
Rubli wünscht sich eine konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention und eine Sensibilisierung der Gesellschaft. Denn: Je früher häusliche Gewalt erkannt wird, desto früher können Massnahmen zum Schutz der Frauen und Kinder ergriffen werden, etwa die konsequente Wegweisung des Täters oder ein Kontaktverbot zu den Gefährdeten. So müssten Frauen und Kinder weniger lang im Frauenhaus bleiben und könnten ein Leben in Sicherheit aufbauen. Weitere Entlastungsmöglichkeiten wären bezahlbare Mietwohnungen und zusätzliche Mädchenhäuser. «Die Frauenhausstrukturen entsprechen nicht den Bedürfnissen von unbegleiteten und minderjährigen Mädchen», erklärt Rubli. Die Leiterinnen seien deshalb immer offen für neue Immobilien, auch wenn dies noch mehr personelle und somit finanzielle Ressourcen bedeuten würde. An Ideen für Lösungsansätze scheint es den Frauenhäusern – im Gegensatz zu den Ressourcen – nicht zu fehlen.