Haben Sie Verständnis für den Plan des Bundesrats, internationale Adoptionen zukünftig zu untersagen?
Vater (V): Geht es in der Öffentlichkeit um Adoptionen, liest oder hört man immer nur von den negativen Fällen. Dass es diese gibt, kann niemand bestreiten. Das Grundübel sehe ich bei Adoptionen, bei denen Geld fliesst. Eine Vermittlungsstelle, die an das Wohl der Kinder denkt und nicht primär ans Geschäft, wird nie ein Interesse daran haben, Kinder zu entführen und dann mit gefälschten Dokumenten zu verkaufen. Ich bin klar gegen ein generelles Verbot.
Wann ist bei Ihnen und Ihrer Frau erstmals der Gedanke aufgekommen, ein Kind zu adoptieren? Was waren die Beweggründe?
V: Bereits sehr früh nach der Heirat. Wir waren auf einer Reise in Indien und Nepal und haben das Leid vieler Kinder auf der Strasse oder in Waisenhäusern gesehen. Unterernährt, krank, ohne jede Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Es war für uns immer klar, dass unser Beitrag sehr, sehr klein ist, ein Tropfen auf den heis-sen Stein. Aber mindestens ein oder zwei Kinder könnten wir aus dem Elend befreien. Wir meldeten unsere Bereitschaft zu einer Adoption bei «Terre des hommes» an.
Wir stellen uns vor, dass die Adoption eines Kindes aus dem Ausland schon um 1980 recht aufwendig war und Sie viele In-stanzen und einiges an Papierkram zu bewältigen hatten.
V: Ja. Was mit einem Brief begann, wurde zu einem regelrechten Spiessrutenlauf. Auf Empfehlung von «Terre des hommes» meldeten wir uns auch bei anderen Organisationen, doch als die erste angeschriebene Organisation als erstes Geld sehen wollte, brachen wir den Kontakt sofort ab. Ein Kind zu kaufen, war für uns undenkbar. «Terre des hommes» blieb für uns erste Wahl. Sie suchten Eltern für Kinder und nicht Kinder für Eltern. Wir erhielten in der Folge zu Hause mehrmals Besuch von Vertreterinnen von «Terre des hommes» und wurden schliesslich in den Büros in Lausanne getrennt befragt. Im Mai 1983 hatte das lange Bangen und Hoffen ein Ende, und wir konnten unsere Tochter und im Oktober 1985 unseren Sohn am Flughafen in Genf in Empfang nehmen.
Eine Adoption ist keine billige Angelegenheit. Können Sie uns verraten, was Sie die Adoption zweier Kinder gekostet hat?
V: «Terre des hommes» hat nie Geld von uns verlangt. Sie haben uns einige Zeit nach der Landung der Kinder gefragt, ob es uns möglich sei, für die Flugkosten und die Aufwände der Spitäler und Ärzte in Indien aufzukommen. Das haben wir selbstverständlich gemacht. Die hiesigen Behörden waren da nicht so rücksichtsvoll. Jedes Dokument, jeder Stempel einer Amtsstelle wurde knallhart in Rechnung gestellt.
Wie haben Ihre Umgebung, die Verwandtschaft, die Arbeitskolleginnen und Kollegen und die Nachbarschaft reagiert, als Sie plötzlich Vater von zwei Kindern waren, die sichtbar nicht aus dem Emmental oder aus Hinterkappelen stammen?
V: Sieht man von kleinen Ausnahmen ab, reagierten alle Leute positiv.
Hatten Sie keine negativen Reaktionen?
V: Sehr wenige. Die Hausbesitzerin meinte beispielsweise beim ersten Blick auf unsere kleine Tochter ‹das isch aber dunku›, oder meine Frau hörte beim Anstehen an der Kasse wie ein älterer Herr seiner Frau zuraunte ‹Hahaha, es Ferie-Souvenir›.
Welches Verhältnis haben Sie heute mit Ihren mittlerweile erwachsenen Kindern, die verschiedene leibliche Mütter haben und sich erst in der Schweiz kennenlernten?
V: Ein sehr gutes. Mein Sohn ist mein bester Freund. Die Tochter lebt seit Jahren in den USA, im Bundesstaat Virginia. Aber sie besucht uns, wenn immer möglich, jedes Jahr zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer 16-jährigen Tochter, auch mit ihr verstehen wir uns prächtig. Rückblickend kann ich sagen: Wie in jeder Familie war es nicht immer leicht. Aber meine Frau und ich sind sehr dankbar und glücklich, dass wir es gewagt haben, zwei Kinder mit schwerem Start ins Leben bei uns aufzunehmen und ihnen eine Chance zu bieten. Unsere Kinder waren und sind für uns eine grosse Bereicherung.
Was sagen Sie dazu, dass der Bundesrat verbieten will, Kinder aus dem Ausland zu adoptieren. Und zwar generell, ohne Ausnahmen, weil er Missbräuche verhindern will. Das EJPD muss jetzt bis spätestens Ende 2026 eine Vernehmlassungsvorlage für ein Verbot von internationalen Adoptionen ausarbeiten.
V: Es wäre falsch, davon auszugehen, dass Adoptionen – ob national oder international – immer erfolgreich sind, auch wenn sie von einer seriösen Organisation ohne finanzielle Interessen vermittelt werden, es gibt auch andere Beispiele. Doch ein generelles internationales Adoptionsverbot finde ich falsch. Unser Beispiel zeigt, dass Adoptionen auch erfolgreich sein und Leben retten können.
Welches sind Ihre ersten Erinnerungen an die Schweiz?
Sohn (S): Auf die Operation an der Hand geht meine erste Erinnerung zurück. Ich erhielt damals einen riesengrossen Teddybären geschenkt, der mich auch heute noch begleitet. Auch die Operation der Mandeln rund eineinhalb Jahre später habe ich nicht vergessen.
Wie alt waren Sie damals?
S: Ich war ungefähr 21 Monate alt, als ich in die Schweiz kam. Mein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt. Es wurde von den indischen Behörden festgelegt. Zum Zeitpunkt der erwähnten Handoperation war ich etwa zweieinhalb Jahre alt.
Sie waren in der Familie das zweite adoptierte Kind, lebten zusammen mit einer älteren Schwester. Wie empfanden Sie das Leben in der Schweiz?
S: Prächtig. Meine Kindheit war frei jeglicher Sorgen. Ich verstand mich glänzend mit meiner älteren Schwester und den Kindern in der Umgebung. Mit einigen Kindern aus der Nachbarschaft spielte ich fast täglich. So bildeten sich Freundschaften, die bis heute anhalten. Mein Lieblingsspielzeug war Lego. Ich baute Burgen, Raumschiffe, alles, was man bauen kann. Dass ich dunkler bin als die Schweizer ist eine Tatsache, war aber selten ein Problem. Ich bin froh und glücklich, dass es der Zufall so gut mit mir meinte. Das Glück, das ich erleben durfte, ist schöner und wichtiger als ein Sechser im Lotto. Solches Glück hat man meistens nur einmal im Leben.
Wie sind Sie in der Schule aufgenommen worden? Gab es für Sie keine Probleme mit der Integration?
S: Ich wurde sehr gut aufgenommen. Bereits im Kindergarten waren wir eine Gruppe von einem halben Dutzend Buben, die vieles zusammen unternahmen und sich auch heute noch hin und wieder treffen. Dass ich eine etwas dunklere Hautfarbe als meine Kameraden habe, war nie ein Thema. Für mich war alles genau so normal wie für die anderen auch. Auch bei den Junioren des SC Wohlensee gab es nie Probleme.
Nach dem Schulabschluss stiegen Sie ins Berufslaben ein. Haben Sie sogleich eine Lehrstelle gefunden?
S: Ich habe unzählige Bewerbungen geschrieben, doch das lag wohl auch an mir, weil ich genau wusste, was ich wollte. Schliesslich klappte es doch.
Haben Sie sich bemüht, Ihre Herkunft ausfindig zu machen? Wissen Sie, wer Ihre leiblichen Eltern sind?
S: Nein, das war für mich nie ein Thema, denn ich wusste, dass dies aussichtslos ist. Die Eltern sind 1996 mit uns beiden nach Indien gereist. Dort haben wir die Waisenhäuser besucht, in denen wir als Kleinkinder gelebt haben.
Kennen Sie Ihr Heimatland?
S: Vor zwei Jahren war ich bewusst allein auf einer Indien-Reise. Dies gehört zu meinem noch nicht abgeschlossenen Prozess, mein ganzes bisheriges Leben zu reflektieren. Ich war auch vor und in dem Waisenhaus, vor dem ich ausgesetzt worden bin und dann auch bis zu meiner Rückreise in die Schweiz gelebt habe. Das waren sehr emotionale Momente. Ich war von den Eindrücken überwältigt.
Denken Sie, dass Sie in Ihrem bisherigen Leben auch schon benachteiligt worden sind, weil Sie «nur» Schweizer, nicht aber Eidgenosse sind?
S: Das kam selten vor. Vielleicht als Jugendlicher hin und wieder im Ausgang, wenn mir bei irgendeinem Lokal der Zutritt verwehrt wurde. Aber im Grossen und Ganzen kann ich mich nicht beklagen.
Was machen Sie heute?
S: Ich arbeite als System-Adminis-trator und habe nebenbei ein Studium in Betriebsökonomie mit Schwerpunkt Digitalisierung begonnen.
Im Gegensatz zu Ihrer Schwester leben Sie in Bern. Wie ist heute Ihr Kontakt mit den Eltern, die Sie adoptiert haben?
S: Sehr gut. Ich besuche sie mindestens einmal pro Woche und werde beim Essen von meiner Mutter verwöhnt. Mit dem Vater besuche ich regelmässig alle YB-Heimspiele, unser Herz schlägt gelb-schwarz und wir fiebern nebeneinander im Block D mit und hoffen auf YB-Tore und -Siege.
Geplantes Verbot
Aktuell gibt es in der Schweiz rund 30 internationale Adoptionen pro Jahr. Der Bundesrat will Missbräuche ganz verhindern können. Deshalb lässt er prüfen, ob und wie ein Verbot möglich wäre. Engagiert dagegen sind z. B. die Nationalräte Stefan Müller-Altermatt (Solothurn), Nik Gugger (Zürich), Philippe Nantermod (Wallis), Giorgio Fonio und Simone Gianini (Tessin). Müller möchte Adoptionen aus dem Ausland sogar stärken. Inzwischen haben über 10’000 Personen eine Petition unterschrieben, auf das Verbot internationaler Adoptionen zu verzichten.