«Tiiina», hörte sie von unten die unverkennbare Stimmwucht ihrer Mutter. Frühstück. Tina eilte die Treppen hinunter und gesellte sich an den Tisch. Bruder Alex war schon da und hatte Nutella sowie die anderen überlebenswichtigen Futtermittel allesamt um seinen Teller geschart. «Das ist gemein Alex, lass mir auch was davon», wollte sich Tina zur Wehr setzen. «Wer zu spät kommt ist selbst schuld», erwiderte Alex trotzig und biss kräftig in ein Brot, das vor lauter Nutella kaum noch zu erkennen war. Doch sein Gebiss schnappte ins Leere. Verdutzt schaute Alex nach oben. Die Mutter hatte in der Reaktionszeit eines Eishockey-Goalies das Brot weggeschnappt, strich gefühlte 90 % an Nutella weg und gab es Alex wieder zurück. Er verstand. Es war mal wieder zu viel des Guten. Tina musste wieder kichern. «Immer dieses Gekichere», nervte sich Alex und versuchte sich in mädchenhaften Gesten. «Wenn du willst, dann zeige ich dir morgen etwas, wo auch du kichern musst», sagte Tina ihrem Bruder. «Was denn?», sagte Alex so neugierig, dass er sogar das Nutella-Brot auf den Teller legte. Ehe er sich versah, schnappte sich Tina das Brot, biss herzhaft hinein und meinte: «Komm morgen vor dem Frühstück in mein Zimmer und ich zeige es dir.» «Aber noch ist heute und wir haben viel zu tun», brachte die Mutter die beiden wieder zurück in den Alltag, «und ihr solltet noch immer eure Hausaufgabe für die Schule machen.» Ach ja, diese doofe Aufgabe. Alle Schüler sollten für Weihnachten jemandem helfen oder etwas Gutes tun. Tina und Alex hatten noch keine Idee und die Mutter ahnte diesen Notstand einen Tag vor Weihnachten und meinte: «Nutzt den Tag dafür, ihr seid doch sonst so fantasievoll, bestimmt fällt euch etwas Gutes ein.»
Oh nein, das bedeutete, zu Hause zu bleiben mit dem Bruder, kein Besuch bei den Freundinnen. Alex litt an denselben Gedanken. Doch war er so etwas wie ein Profi, wenn es um Minimalismus geht. So wenig wie nötig, so schnell wie möglich und dann so teuer wie möglich verkaufen. Dann bliebe genügend Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens wie Fussball, X-Box und Nutella-Brote. «Tina, ich habe eine Idee, wir schreiben einfach auf einen Zettel ‹Frohe Weihnachten› und hängen diesen aus dem Haus. Dann tun wir etwas Gutes für alle, die am Haus vorbeilaufen. Wenn wir uns beeilen, sind wir in zehn Minuten fertig und können spielen gehen», klang er, als hätte er soeben eine Idee gehabt, die den Nobelpreis verdienen würde. «Nein Alex, damit haben wir ja noch nichts Gutes getan, nur frohe Weihnachten gewünscht», bremste ihn Tina. Doch zu spät. Alex war schon in der Geschwindigkeit eines Tesla nach oben gehuscht und kramte in der Schublade nach dem grössten Stück Papier. Tina nahm es gemächlicher, als sie nach oben kam, und meine nur: «Hast du mir nicht zugehört, das ist zu wenig?» So schnell wie Alex nach oben raste, so schnell war nun sein Akku leer und die Lust vergangen. Auch wie ein Tesla. Wie er das hasste. Diese Erbsen-Kackerei seiner Schwester immer. «Dann schreiben wir halt etwas Nettes auf das Blatt», korrigierte er seine Idee. «Ja, zum Beispiel: ‹Sie sind ein toller Mensch›», fand nun plötzlich Tina ihre Idee nobelpreisverdächtig. «So ein Schmarren», sagte Alex und ergänzte: «Was meinst du, was unsere Freunde denken, wenn sie diese Botschaft an unserem Haus sehen, kannst du dir vorstellen, wie die uns in der Schule auslachen?» Tina hasste es, wenn Alex recht hatte, aber ab und zu, also nur manchmal, also eigentlich fast nie, hatte er recht. Und jetzt war ein «fast nie». Daran hatte sie nicht gedacht.
«Essen ist fertig, Hände waschen und dann zu Tisch kommen», weckte Mutters Stimme die Kreativ-Abteilung vom ersten Stock Stunden später aus ihrer Schaffenskrise. Inzwischen kam auch der Vater nach Hause und erkundigte sich mit der obligaten Frage: «Und, was habt ihr Glückspilze mit eurem Projekttag bisher so gemacht?» Das war keine taktvolle Frage, wenn man weder draussen gewesen war, noch bei den Hausaufgaben die Aussicht auf Besserung hatte. «Nichts», meinte Tina kurz und bündig. Alex aber war Meister im Verkaufen des Wortes «Nichts» und sagte: «Wir haben heute Morgen eine brilliante Idee für unsere Schulaufgabe gehabt. Nun wollen wir diese am Nachmittag umsetzen.» «Das klingt aber spannend, was habt ihr denn vor?», war nun Mutters Neugier geweckt. Tina rollte die Augen und setzte mit dem linken Bein zu einem gekonnten Kick Richtung Alex‘ Schienbein an. «Auuu… das verraten wir noch nicht», rettete er sich gerade noch. «Toll, wie ihr das zusammen macht», kommentierte der Vater und schöpfte sich sichtlich zufrieden einen zweiten Teller Spaghetti. «Vergiss den Salat nicht», ermahnte ihn seine Frau und Tina nutzte die Gelegenheit, um sich auch gleich Salat zu schöpfen. So sammelt man Punkte.
Ein Plakat am Fenster; ein guter Spruch musste her. Und zwar jetzt, wollten sie noch eine kleine Chance wahren, sich mit Freunden zu treffen. «Wir schreiben drauf: ‹Wir wünschen allen, dass es bald schneit›». Tina war wenig erfreut ab dieser Idee und erwiderte trotzig: «Ich will aber nicht, dass es schneit und es gibt bestimmt noch andere Menschen, die keinen Schnee mögen. «Dann schau doch selbst was du tust», brummte Alex und verliess das Zimmer. Doch Tinas Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, er beschloss, diesen Spruch nicht auf das Blatt zu schreiben, denn eigentlich hatte sie ja recht, also eigentlich hatte sie selten recht, also eigentlich so gut wie nie, aber jetzt eben, halt doch vielleicht irgendwo ein kleines bisschen, vielleicht halt nur.
Tina lag im Zimmer auf dem Bett und war stinksauer. Ein Tag, der mit dem Auftritt der Nachbarin Frau Leisi im Schlafrock so gut begonnen hatte, entpuppte sich als Alptraum. «Essen ist fertig», klangen die magischen Worte schon wieder nach oben. Und als sowohl Alex als auch Tina appetitlos auf der Rösti rumstocherten, ahnte ihre Mutter das Problem. «Jeder Künstler steckt manchmal in einer Krise und kommt nicht weiter. Dann muss man etwas anderes tun und dann plötzlich, geht es wieder weiter», schien sie das Problem zu kennen, als hätte es ihr Kater Willibald zugeflüstert. «Na dann helft ihr noch die Küche aufräumen und dann habt ihr den Abend frei», ergänzte der Vater verständnisvoll. So endete dieser Tag wieder etwas freundlicher und versöhnlicher. Tina beschloss, Musikvideos auf YouTube anzuschauen und Willibald zu streicheln. Alex wollte unbedingt Vater beim Pneuwechsel behilflich sein. Mit einem Hintergedanken; dann nämlich kommt er unbehelligt in den Kellereingang und kann sich eine dieser gut gelagerten Kägifret-Stangen ergattern. «Gewusst wie», sagte er sich, wieder gut gelaunt.
«Tock, tock, tock.» Was war das für ein Geklopfe im Traum, dachte sich Tina. Doch halt, das war ja gar kein Traum, es klopfte wirklich an ihrer Tür. Wenig später und ohne dass sie «herein» gesagt hatte, stand Alex im Zimmer und meinte: «Was wolltest du mir denn unbedingt zeigen?» «Alex!», klang Tina so sauer, wie wenn man einen Bären aus dem Winterschlaf weckt. «Geh raus und warte, ich hole dich dann.» Gefühlt vier Monate später, öffnete sich endlich Tinas Zimmertür und Alex durfte eintreten. Gemeinsam warteten sie auf den Auftritt von Frau Leisi. Und – «Action.» Die Tür öffnete sich und eine ältere Frau trat heraus. Aber das Gekicher blieb Tina im Hals stecken: Frau Leisi war weder im Schlafrock noch in den Finken. Nein, ein langer Rock bedeckte die ausladenden Hüften und das reich bestickte Oberteil sowie die frisch frisierten Haare boten einen unerwartet schönen Anblick. «Was soll daran lustig sein?», klang Alex enttäuscht. «Die ist sonst nie so gekleidet, immer im Schlafrock mit Finken und sieht aus wie ein Walross gepaart mit einem Gürteltier», klang Tina total überrascht und ergänzte: «Und ich hab keine Ahnung, weshalb das heute nicht so ist.» «Dann lass uns das rausfinden», klangen nur noch die Worte im Zimmer und Alex verschwand wieder Tesla-gleich aus dem Zimmer. «Warte auf mich», rief Tina hinterher und versuchte gleichzeitig die Treppen hinunter zu steigen und die Hosen anzuziehen. Das Resultat dieser Übung landete unsanft vor Willibalds Füssen. «Mutter, wir müssen noch etwas erledigen, das Frühstück muss warten», sagte Alex und verliess das Haus, so dass Tina nur mit Mühe folgen konnte. Ohne zu zögern läutete Alex an der Tür von Frau Leisi. Tina überkam ein ungutes Gefühl. Als sie gerade gehen wollte, öffnete sich die Tür und mit einem Lächeln im Gesicht sagte die Frau: «Ja bitte?» «Ähm, hallo Frau Leisi», stammelte Tina mit so roten Backen, dass man damit das Rotlicht auf der Hauptstrasse im Dorf hätte ersetzen können. «Wieso sehen Sie heute nicht aus wie ein Walross gepaart mit einem Gürteltier», fragte Alex und erkannte die Tragweite seiner Worte erst, als es schon viel zu spät war. Tina erstarrte, zum Dunkelrot in den Backen kam Schweiss dazu. «Ja weisst du denn nicht, dass heute Weihnachten ist, mein Junge?», antwortete Frau Leisi, ohne sich etwas anmerken zu lassen. «Doch, schon», sagte Alex. «Dann haben Sie sich schön gemacht, weil Ihre Familie Sie besuchen kommt?», war nun Alex in seinem Element. «Ach mein Junge, das wäre schön, aber weisst du, ich habe keine Kinder und mein Mann ist schon vor Langem verstorben, ich feiere Weihnachten alleine», erklärte Frau Leisi mit Engelsgeduld. «Weshalb bleiben sie dann nicht im Schlafrock und in den Finken?», verstand Alex die Welt nicht mehr. «Nun denn, weil es doch der Tag der Liebe ist und wenn man niemanden mehr hat, dann gibt man sich selbst etwas Liebe und deshalb mache ich mich schön», antwortete die Frau noch immer mit einem warmen Lächeln. Tina war wieder etwas zu sich gekommen, aber auch traurig, so etwas zu hören. Und weil es in der Familie liegt, konnte auch sie nicht mehr viel überlegen, als sie sagte, «dann kommen sie doch zu uns und feiern mit uns Weihnachten.» «Ach, das ist lieb von dir mein Kind, aber das wäre deinen Eltern vielleicht nicht recht, weisst du.» «Doch, Frau Leisi, das wäre uns sehr recht», klang die sanfte Stimme der Mutter aus dem Hintergrund. Sie hatte das Haus verlassen, um zu schauen, was die beiden so Dringendes zu erledigen hatten. Und was sie sah, hatte sie tief berührt. Frau Leisi brachte es fertig, irgendwie in alle drei Gesichter gleichzeitig zu blicken und meinte: «Wenn es wirklich keine Umstände macht, komme ich sehr gerne», und ergänzte: «Und ihr beiden, ihr solltet jetzt schnell in die Schule.» Ach ja, Mist, noch waren es ein paar Stunden Schule. bevor Weihnachten zu Hause anstand.
Als die ganze Schule in der Aula versammelt war, kam der grosse Moment und die Schulleiterin pickte sich ein paar Schüler heraus, die zeigen sollten, was sie für ihre Weihnachts-Hausaufgabe gemacht hatten. Pakete für arme Kinder ferner Länder, Lieder auf dem Dorfplatz vorsingen, Geld für einen guten Zweck sammeln, die Ideen waren toll. «Und du. Alex?», sagte die Schulleiterin und bat ihn nach oben zum Mi-krofon. «Ich, ähhm», Alex war noch tief in seine Scham gehüllt, da nahm ihm jemand das Mikrofon aus der Hand. Es war Tina, die ihm auf die Bühne gefolgt war. «Alex hat dafür gesorgt, dass eine einsame Frau ohne Angehörige in einer Familie Weihnachten feiern kann», klang Tina schon fast muttergleich. Als Alex den Blick wieder ein wenig vom Boden erhob, sah er viele erstaunte Gesichter. Die Schulleiterin war fast sprachlos. Aber eben nur fast. «Wo denn?», fragte sie kurz nach. Und Alex antwortete: «Bei uns zu Hause.» Es kommt selten vor, das die beiden Geschwister ohne Streit nach Hause laufen, also eigentlich sehr selten, nun um genau zu sein fast nie. Aber heute, heute war es anders. Diese Weihnachten versetzte die beiden in eine ganz spezielle Vorfreude.
Als Frau Leisi das Haus betrat und von Mutter und Vater herzlich begrüsst wurde, kam doch noch so eine nobelpreisverdächtige Frage hervor: «Weshalb sind Sie eigentlich nicht sauer geworden, als Alex von Walross und Gürteltier sprach», wagte Tina eine Frage zu stellen, die sie den ganzen Tag beschäftigt hatte? Und die Antwort, tja diese Antwort kam genau gleichzeitig wie der leichte Schneefall, der nun draussen einsetzte: «Weil ihr alleine dadurch, dass ich nicht böse geworden bin, schon genug gelernt habt. Wetten, ihr würdet es nicht mehr sagen?», blickte Frau Leisi mit breitem Lachen auf Tina und Alex. Nun musste Tina grinsen, so fest wie an jenem Tag, als alles begann. Kater Willibald war nur ein stiller Zeuge dieses magischen Momentes, aber wer ganz gut hinhorchte konnte ihn sagen hören: «Diese Antwort war wirklich nobelpreisverdächtig.»
Frohe Weihnachten.