Kolumne

Von der Schweiz und den Schatten des Lebens

Marmar Ghorbani
Unsere Kolumnistin erzählt von berührenden Begegnungen.

Foto: zvg/EE

Einfach erklärt
Marmar Ghorbani lebt seit 2017 in Bern West. Sie stammt aus Persien, dem heutigen Iran. Sie schreibt hier über Alltagssituationen, die sie berühren, irritieren und auch mal schmunzeln lassen.
Unsere Kolumnistin begegnet verschiedenen Menschen. Mal erhält sie ein Kompliment, mal ergibt sich ein Gespräch.

Ich brauchte dringend etwas Bargeld und eilte zum nächsten Bankautomaten. Als ich ankam, war gerade eine schön gekleidete ältere Schweizerin fertig – sie trug granatapfelroten Lippenstift und stand noch in der Nähe, während sie sorgfältig das Geld in ihre Handtasche legte. Dabei drehte sie sich zu mir um und warf mir einen Blick zu. Plötzlich war ich unsicher – war ich zu früh herangetreten? Vielleicht war sie noch nicht ganz fertig und wollte zurück zum Automaten. Höflich lächelnd fragte ich: «Entschuldigen Sie, sind Sie fertig?» Sie ordnete noch ihre Handtasche, sah mich nochmals an und sagte: «Ja, ich bin fertig. Ich habe nur geschaut, was für schöne Schuhe Sie da tragen.» Ich musste lächeln – ehrlich berührt von diesem unerwarteten Kompliment. Lustigerweise bekomme ich öfter Komplimente von älteren Menschen. Und so schmunzelte ich still in mich hinein.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit im Monnier Café – einem meiner Lieblingsorte in der Stadt. Ich sass dort und schrieb in mein Tagebuch, als ein älterer Schweizer Herr hereinkam und fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe, da alle anderen Tische besetzt waren. Dann warf er einen Blick auf mein Tagebuch und sagte: «Was für eine schöne Handschrift! In welcher Sprache schreiben Sie?» Aus dieser kleinen Frage entstand ein langes Gespräch. Er begann, mir Geschichten über Politik, Krieg und den Ersten Weltkrieg zu erzählen – wie die Soldaten beider Seiten zu Weihnachten während eines Waffenstillstands gemeinsam feierten, nur um am nächsten Tag wieder gegeneinander zu kämpfen. Sie dachten nicht viel darüber nach, was sie taten; sie befolgten einfach Befehle. Er erzählte so viele Geschichten, dass schliesslich die Kellnerin zu uns kam und uns freundlich daran erinnerte, dass das Café bald schliessen würde. Wir verabschiedeten uns – und ich habe ihn nie wieder gesehen.

Eine weitere unvergessliche Begegnung hatte ich vor langer Zeit im Frühstückssaal eines gehobenen Hotels in Manchester. Ich nahm damals an einer Studierendenkonferenz mit internationalen Teilnehmenden teil. Während die meisten in Pyjama oder lockerer Kleidung zum Frühstück erschienen, stand ich in frisch gebügeltem Hemd und Hose da – bereit für den Konferenztag. Am Eingang stand eine Dame, welche die Gäste begrüsste und zu den Tischen führte – sie wirkte etwa sechzig und erinnerte mich sofort an Margaret Thatcher: würdevoll, elegant, in einem Kostüm mit Rock – so, wie man es früher im Fernsehen sah. Als ich sie begrüsste, lächelte sie und sagte mit klassisch britischem Tonfall: «Guten Morgen. Wie elegant. In Ihrem Alter kleidet sich kaum noch jemand so schick.» Ich dankte ihr – und dachte mir: Vielleicht ist meine Generation die letzte, die sich noch an die Iron Lady mit den Perlenohrringen erinnert, wie sie in den Abendnachrichten sprach.

Bei einer anderen Gelegenheit sagte mal jemand zu mir: «Du denkst wie alte Schweizerinnen und Schweizer.» Ich musste lachen – und ehrlich gesagt, ich nahm es als Kompliment. Denn genau diese Generation mit ihrer stillen Weisheit, ihrem Pflichtgefühl und ihrer Bodenständigkeit, hat das Land aufgebaut, in dem wir heute so bequem leben. Manchmal frage ich mich, ob wir das überhaupt noch richtig zu schätzen wissen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Jüngeren mehr davon mitnehmen, als sie im Moment vielleicht ahnen.

Am selben Tag, an dem ich das Kompliment für meine Schuhe bekam, erledigte ich noch ein paar Dinge und setzte mich später auf eine Bank in der Kleinen Schanze, um die letzten Sonnenstrahlen zu geniessen. Plötzlich kam eine junge Frau auf mich zu und beugte sich leicht vor: «Darf ich fragen, welches Buch Sie da lesen? Ich habe Sie vom Hügel aus gesehen und wurde einfach neugierig.» Ich zeigte ihr das Cover und erwiderte ihr freundliches Lächeln mit einem breiten Grinsen. Sie sah aus, als wäre sie etwa zwanzig. Vielleicht wirke ich mit einem Buch in der Hand ein wenig altmodisch auf sie – jemand, der Komplimente von älteren Menschen bekommt und denkt wie eine alte Schweizerin. Kurz danach kam ein älterer Herr auf mich zu und fragte, ob der Rest der Bank noch frei sei. Eine ganz typische Schweizer Frage – etwas, das man in vielen anderen Ländern kaum hört. Dort, wo Menschen einfach, ohne zu fragen, auf einer öffentlichen Bank Platz nehmen, die ja allen gehört, und niemand erwarten würde, um Erlaubnis gebeten zu werden. Ich nickte, sagte: «Ja, bitteschön», und er setzte sich. Nach einer Weile, als ich meinen Nacken streckte und aufsah, fragte er freundlich nach meinem Buch – und dann, woher ich komme. Nachdem ich es ihm erzählt hatte, lächelte er und sagte: «Ein schönes Land und freundliche Menschen!» Ich dankte ihm herzlich. Er stammte vom Balkan und lebte seit rund 30 Jahren in der Schweiz. Dann fragte er, ob das Leben hier in Ordnung sei und ob es mir gefalle. Ich antwortete ehrlich: «Wenn es mir nicht gefallen würde, wäre ich einfach in mein Heimatland zurückgegangen.» Er zog leicht die Stirn kraus – als hätte er sich eine andere Antwort gewünscht. 

Dann kam er auf die Weltpolitik zu sprechen. Anschliessend sprach er über die Schweizer Wirtschaft, die steigenden Preise – und präsentierte mir seine eigene Rechnung zur Inflation. Ich bin zwar keine Wirtschaftsexpertin, aber schlug vorsichtig vor: «Vielleicht sollten Sie überlegen, in ein Land mit niedrigerer Inflation zu ziehen.» Er antwortete nicht direkt, seufzte nur leise. «Ja, man verdient gut», sagte er dann, «aber dann muss man alles wieder zurückzahlen.» Ich erwiderte spontan: «In manchen Ländern verdient man nicht gut – und muss trotzdem viel zurückzahlen.» Er seufzte erneut und schaute in die Ferne – Richtung Bundeshaus und darüber hinaus.

Ich spürte, dass diesmal keine weiteren Komplimente mehr kommen würden. Also sammelte ich mich, blickte noch einmal auf meine Schuhe – dankbar für das kleine Kompliment von früher am Tag – und lächelte leise. Dann wünschte ich ihm alles Gute und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.

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