Kolumne

Von der Schweiz und den Schatten des Lebens

Marmar Ghorbani
Eine freundliche Begegnung an der Kasse kann das Leben bereichern (Symbolfoto).

Foto: zvg/EE

Einfach erklärt
Marmar Ghorbani lebt seit 2017 in Bern West. Sie stammt aus Persien, dem heutigen Iran. Sie schreibt hier über Alltagssituationen, die sie berühren, irritieren und auch mal schmunzeln lassen.
Eine Begegnung mit dem Kassier in einem Supermarkt bringt unsere Kolumnistin Marmar Ghorbani zum Lächeln. Sie erzählt von den Herausforderungen als Mitgrantin, im Alltag mit all den Regeln klarzukommen, und der Gleichzeitigkeit von gefühlter Gleichstellung.

Es war ein später Nachmittag am 31. Juli. Der Supermarkt war natürlich voll – viele Menschen in den Schlangen, Einkaufswagen überquellend mit schweizerisch beflaggten Produkten, überall ein Hauch von «Simply Swiss». Ich steckte meine Karte in das Kartenlesegerät. Sobald die Zahlung abgeschlossen war, riss der Kassierer den Kassenbon aus dem Drucker und sagte: «Zetteli?» Während ich noch meine letzten Einkäufe einsammelte, antwortete ich: «Nein, danke.» Dann sagte er: «Frohe Ersti August!» Zuerst war ich mir nicht sicher, ob er wirklich mit mir sprach. Aber er schaute mich direkt an und sagte es ganz deutlich. Es war mein Zetteli und mein «Frohe Ersti August». An meinem Blick erkannte er sofort meine Überraschung. Dann lächelte er noch breiter – ein Lächeln, das seine herzlichen Glückwünsche bestätigte. Ich lächelte zurück und liess meine Überraschung in Dankbarkeit übergehen. Mit meinem ungewohnten Akzent bedankte ich mich bei ihm und wünschte ihm dasselbe. Er hatte mir kein Stück Fondue oder Rösti gegeben, aber er hatte etwas genauso Bedeutungsvolles mit mir geteilt – seine Nationalität. Für mich ist Nationalität nicht nur ein Pass; sie ist eine innere Verwandlung.

Bis jetzt bin ich durch meine Pünktlichkeit, das Grüssen im Lift, das Ruhigsein nach 22 Uhr und an Sonntagen, das Begrüssen mit drei Küsschen, durch häufiges Spazierengehen, das im Voraus-Planen auch von spontanen Momenten, das Lernen der kantonalen Regeln im Wissen, dass in den Nachbarkantonen alles anders und weniger interessant ist, das Ablehnen von nicht-schweizerischer Schokolade, das Fragen, ob ein freier Platz im öffentlichen Verkehr wirklich frei ist, und das Üben der Aussprache von «Chäs-chüechli» – nur teilweise Schweizer.

Ich hob meine Einkaufstasche hoch und trug dabei nicht nur Lebensmittel, sondern auch das erfreuliche Gewicht meines «Frohe Ersti August». Auf dem Heimweg kam mir ein stiller Gedanke: Nirgendwo sonst, in keinem anderen Land, in dem ich gelebt habe, habe ich mich je so gleichgestellt gefühlt wie hier. Sogar das Migrationsamt – das eigentliche Symbol für Grenzen und Bürokratie – ist der Ort, an dem sich auch Schweizerinnen und Schweizer registrieren lassen. Wir sitzen alle im gleichen Wartezimmer und warten alle gleich auf unsere amtlichen Angelegenheiten. «Alle sind vor dem Gesetz gleich» – so sagte mir einmal eine Apothekerin, als ich versuchte, ein kompliziertes Problem mit der Krankenversicherung zu verstehen. Sie sagte es so bestimmt, so selbstverständlich, dass ich seitdem nicht mehr anders denken kann. Solange ich in diesem Land, innerhalb dieser Grenzen lebe, trage ich diese Wahrheit mit mir.

Als meine Mutter mich hier besuchte, stand sie jeden Morgen auf und sagte: «Wow, was für ein Land! Was für Leute!» Voller Bewunderung lief sie herum: «Schau mal! Autofahrer und Fussgänger halten überall an, wo sie sollen – und das, ohne sich anzuschreien. Leute sollten hierher reisen und lernen, wie man lebt.» In den Dörfern war sie ebenfalls beeindruckt: «Wow, wie sauber sind die Kühe!» Doch, als ich sie fragte, ob sie länger bleiben wolle, zögerte sie. «Nein», sagte sie, «ich glaube, ich komme mit so vielen Regeln nicht klar. Man muss ständig aufpassen, keine zu brechen.» Und das kam nur wenige Tage, nachdem sie freudig mit einem grossen Bund Wildkräuter und -blumen nach Hause gekommen war – worauf ich nur zaghaft meinte, ich sei mir nicht sicher, ob das Pflücken überhaupt erlaubt sei.

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