Sofort rief Burkhardt die Nummer 117 an. Nach Bitten der Einsatzzentrale, den Fundort nicht zu betreten und dafür die unmittelbare Umgebung abzusperren, vergingen nur wenigen Minuten, bis ein erster Streifenwagen eintraf. Inzwischen ebenfalls alarmiert: Das Dezernat Leib+Leben der Kantonspolizei Bern – Leiter Viktor Kneubühl -, die Kriminaltechnik, die Rechtsmedizin, die Staatsanwaltschaft sowie die Medienstelle der Kapo Bern. Kurz: Das gesamte «Rösslispiel», wie in einem solchen Fall üblich.
«Was ich schon einmal sagen kann», liess sich Konrad Schneider vom Kriminaltechnischen Dienst KTD entlocken, «Fundort ist nicht gleich Tatort, es gibt Schleifspuren von einem grossen Abfallcontainer der Firma Hanselmann zum Anhänger.» Offenbar hatte die Täterschaft versucht, die Leiche dort zu entsorgen, was jedoch nicht gelang, weil der Container mit einem Schloss zugesperrt wurde. Kneubühl stellte Rechtsmedizinerin Esther Hasler zu Beginn ihrer Arbeit die Mutter aller Fragen – er erhielt umgehend die Mutter aller Antworten: «Nein, mein Lieber, genaue Tatzeit und Tatumstände erst, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte. Mutmassung: Todeszeitpunkt gegen Mitternacht, vermutlich Schädelhirntrauma nach einem heftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.»
Erste Ergebnisse zur Identität des Toten gab es bereits im Laufe des Vormittags. Beim Opfer handelte es sich um den 55-jährigen Beat Tschannen, wohnhaft an der Brünnenstrasse in Bümpliz, für die Ermittler kein Unbekannter, polizeidienstlich wegen Hehlerei und Betrug registriert. Zwar lagen diese Delikte einige Jahre zurück, aber die Spezialisten für Wirtschaftskriminalität hatten Tschannen aus aktuellem Anlass auf dem Radar. Ein V-Mann der Kapo Bern hatte erst vor einer Woche davon gesprochen, dass Tschannen «möglicherweise» in Kontakt mit Hehlern auf «Einkaufstour» stünde, ihrerseits als gewöhnliche französische Touristen getarnt. Spezialgebiet: Antiquitäten aus alten Schlössern und Burgen. Der besagte V-Mann wurde von Viktor Kneubühl noch am Vormittag zu einem Gespräch aufgeboten. Dieses Treffen fand «aus praktischen und nachvollziehbaren Gründen» ganz in der Nähe des Tatorts statt, im Restaurant Schloss Bümpliz.
Das alte Schloss hatte eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Um 900 n. Chr. vom burgundischen König Rudolf II erbaut, im 12. und 13. Jahrhundert von den Herzögen von Zähringen verwaltet. Nach dem Zusammenbruch des Patriziats 1798 wurde im Neuen Schloss Mitte des 19. Jahrhunderts zuerst eine Nervenheilanstalt, später ein Internat für Knaben eingerichtet. 1976 schliesslich zerstörte ein Brand einen grossen Teil des Gebäudes. Beim Wiederaufbau und der Rekonstruktion kamen in einem Keller bislang unbekannte Kunstschätze zum Vorschein, die offenbar im Visier der Kunstdiebe standen.
Der V-Mann erzählte Kneubühl diese Kurzfassung, um einen möglichen Hintergrund der Tat auszuleuchten. Verwirrend allerdings der Umstand, dass mit Tschannen einerseits ein möglicher Hehler liquidiert wurde, dass es andererseits aber überhaupt keine Hinweise auf bevorstehende Aktivitäten von Schieberbanden gab. Fazit: es gab nichts auszuleuchten, man tappte im Dunkeln, was Kneubühl vermuten liess, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Tod von Beat Tschannen und möglichen Hehlereien gab. Eine Vermutung, die sich bereits am nächsten Tag bestätigen sollte.
Es war – einmal mehr – Kommissar Zufall, der sich aufdrängte, dieses Mal in der Person eines Arztes, notfallmässig auf dem Weg ins Inselspital. Ihm war aufgefallen, dass «gegen Mitternacht» ein Auto ohne Licht, dafür mit quietschenden Reifen aus dem Areal gefahren kam und verbotenerweise links in die Bümplizstrasse einbog. «Aus einem Bauchgefühl heraus» notierte er sich die Zahlen auf dem Kontrollschild, die zu einem mehrfach wegen schwerer Körperverletzung vorbestraften Schweizer führten, mit dem eigenen (!) Auto unterwegs. Tatmotiv: Unbeglichene Spielschulden.