Bevor ich das Buch «50 Migrationsgeschichten, die du kennen solltest» entdeckte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass Mi-grantinnen und Migranten eine so bedeutende Rolle in der Schweiz spielen. Die Zeichentrickfilme, mit denen ich aufgewachsen bin – Heidi und Alpen Story: My Annette – erzählten keine Geschichten von Einwanderern. Doch dann musste ich bei dem Gedanken schmunzeln: Vielleicht ist es einfacher, eine bekannte Migrantin zu werden, als sich das Buch leisten zu können.
Für mich war die erste Herausforderung der Migration immer die richtige Interpretation – das Verstehen von allem, was gesagt, gemeint oder gefühlt wird. Nun ja… von allem, ausser dem Schmerz. Schmerz will nicht erklärt werden – er will empfunden werden. Wenn man nie Zahnschmerzen hatte, kann einem niemand so richtig erklären, wie sie sich wirklich anfühlen. Der Schmerz der Migration ist ähnlich – tief, real und doch schwer in Worte zu fassen. Ich habe diesen Schmerz zum ersten Mal wirklich gespürt, als ich Jhumpa Lahiris «Interpreter of Maladies» las. Damals war ich auf eine andere Art «Migrantin» – ich war von meiner kleinen Heimatstadt in die riesige Stadt Teheran gezogen. Immer noch im eigenen Land, ja, aber schon eine Fremde in einer neuen Welt. Es war eine Art innerer Migration – so, wie wenn jemand aus Luzern nach Bern zieht und merkt, dass man zwar keine Landesgrenze überschritten hat, sich aber doch fremd fühlt. Und dann hört man vielleicht so etwas wie: «Ich verstehe, was es heisst, Heimweh zu haben. Luzern – die schönste Stadt der Schweiz – mit ihrem See, den Bergen… Ich vermisse sie so sehr. Und dieses Bärndütsch? So fremd. Ich brauche bei Migros noch immer Untertitel.»
Deshalb glaube ich, dass vielleicht kein anderes Land die Komplexität der Interpretation so gut kennt wie die Schweiz. Man denke nur daran, wie viele Begriffe es allein für «Quittung» gibt: Kassebon, Kassezedu, Zedeli, Kassezättel, Kassenzettel, Reçu, Ticket de caisse, Scontrino – je nach Region oder Altersgruppe. Sogar die Suche nach dem richtigen Wort für «Quittung» kann sich wie ein kleiner interkultureller Test anfühlen.
Vor Kurzem wurde mir die Bedeutung von Interpretation wieder bewusst – bei den Solothurner Literaturtagen. Eine junge Frau und Frauenrechtsaktivistin aus Afghanistan erzählte auf einem Podium ihre Geschichte. Sie war vor den Taliban geflohen und hatte in der Schweiz Schutz gefunden. Auf die Frage, was sie bei ihrer Ankunft empfunden habe, antwortete sie auf Dari: «Traurigkeit.» Doch die Übersetzung lautete: «Angst». Für diejenigen, die persisches Dari verstanden, war klar: Sie meinte etwas ganz anderes. Sie erzählte, dass ihre Flucht mehrere Monate dauerte – Monate, in denen sie keine Zeit hatte, den Verlust ihrer Heimat zu betrauern. Die Schweiz bot ihr zum ersten Mal einen sicheren Raum – einen stillen Moment, in dem die Trauer endlich Raum bekam. Die Dankbarkeit würde noch kommen. Aber die Trauer war zuerst da – sorgfältig eingepackt im Gepäck ihrer Gefühle. Dieser Moment brachte mich zum Nachdenken. Wie oft wurden meine Worte, meine Gefühle – ja, sogar meine Gesten und mein Verhalten – missverstanden oder fehlinterpretiert? Hunderte Male vielleicht. Oder noch mehr. Und wie oft passiert das vielleicht auch einem Luzerner oder einer Luzernerin, der oder die einfach nur versucht, in Bern anzukommen? Wahrscheinlich würden sie sagen: genauso oft.