Kolumne

Von der Schweiz und den Schatten des Lebens

Marmar Ghorbani
Kassebon, Zedeli, Quittig: In der Schweiz gibt es viele Ausdrücke, die dasselbe meinen.

Foto: zvg/EE

Einfach erklärt
Marmar Ghorbani lebt seit 2017 in Bern West. Sie stammt aus Persien, dem heutigen Iran. Sie schreibt hier über Alltagssituationen, die sie berühren, irritieren und auch mal schmunzeln lassen.
Als Migrantin war es für Marmar Ghorbani schon oft eine Herausforderung, Gesagtes und damit Gemeintes richtig zu interpretieren und im Gegenzug von anderen verstanden zu werden. Sprachlich, aber auch kulturell. Die Schweiz mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Dialekten sieht sie als gutes Beispiel für solche Schwierigkeiten, da auch viele Schweizerinnen und Schweizer untereinander diese Probleme haben.

Bevor ich das Buch «50 Migrationsgeschichten, die du kennen solltest» entdeckte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass Mi-grantinnen und Migranten eine so bedeutende Rolle in der Schweiz spielen. Die Zeichentrickfilme, mit denen ich aufgewachsen bin – Heidi und Alpen Story: My Annette – erzählten keine Geschichten von Einwanderern. Doch dann musste ich bei dem Gedanken schmunzeln: Vielleicht ist es einfacher, eine bekannte Migrantin zu werden, als sich das Buch leisten zu können.

Für mich war die erste Herausforderung der Migration immer die richtige Interpretation – das Verstehen von allem, was gesagt, gemeint oder gefühlt wird. Nun ja… von allem, ausser dem Schmerz. Schmerz will nicht erklärt werden – er will empfunden werden. Wenn man nie Zahnschmerzen hatte, kann einem niemand so richtig erklären, wie sie sich wirklich anfühlen. Der Schmerz der Migration ist ähnlich – tief, real und doch schwer in Worte zu fassen. Ich habe diesen Schmerz zum ersten Mal wirklich gespürt, als ich Jhumpa Lahiris «Interpreter of Maladies» las. Damals war ich auf eine andere Art «Migrantin» – ich war von meiner kleinen Heimatstadt in die riesige Stadt Teheran gezogen. Immer noch im eigenen Land, ja, aber schon eine Fremde in einer neuen Welt. Es war eine Art innerer Migration – so, wie wenn jemand aus Luzern nach Bern zieht und merkt, dass man zwar keine Landesgrenze überschritten hat, sich aber doch fremd fühlt. Und dann hört man vielleicht so etwas wie: «Ich verstehe, was es heisst, Heimweh zu haben. Luzern – die schönste Stadt der Schweiz – mit ihrem See, den Bergen… Ich vermisse sie so sehr. Und dieses Bärndütsch? So fremd. Ich brauche bei Migros noch immer Untertitel.»

Deshalb glaube ich, dass vielleicht kein anderes Land die Komplexität der Interpretation so gut kennt wie die Schweiz. Man denke nur daran, wie viele Begriffe es allein für «Quittung» gibt: Kassebon, Kassezedu, Zedeli, Kassezättel, Kassenzettel, Reçu, Ticket de caisse, Scontrino – je nach Region oder Altersgruppe. Sogar die Suche nach dem richtigen Wort für «Quittung» kann sich wie ein kleiner interkultureller Test anfühlen.

Vor Kurzem wurde mir die Bedeutung von Interpretation wieder bewusst – bei den Solothurner Literaturtagen. Eine junge Frau und Frauenrechtsaktivistin aus Afghanistan erzählte auf einem Podium ihre Geschichte. Sie war vor den Taliban geflohen und hatte in der Schweiz Schutz gefunden. Auf die Frage, was sie bei ihrer Ankunft empfunden habe, antwortete sie auf Dari: «Traurigkeit.» Doch die Übersetzung lautete: «Angst». Für diejenigen, die persisches Dari verstanden, war klar: Sie meinte etwas ganz anderes. Sie erzählte, dass ihre Flucht mehrere Monate dauerte – Monate, in denen sie keine Zeit hatte, den Verlust ihrer Heimat zu betrauern. Die Schweiz bot ihr zum ersten Mal einen sicheren Raum – einen stillen Moment, in dem die Trauer endlich Raum bekam. Die Dankbarkeit würde noch kommen. Aber die Trauer war zuerst da – sorgfältig eingepackt im Gepäck ihrer Gefühle. Dieser Moment brachte mich zum Nachdenken. Wie oft wurden meine Worte, meine Gefühle – ja, sogar meine Gesten und mein Verhalten – missverstanden oder fehlinterpretiert? Hunderte Male vielleicht. Oder noch mehr. Und wie oft passiert das vielleicht auch einem Luzerner oder einer Luzernerin, der oder die einfach nur versucht, in Bern anzukommen? Wahrscheinlich würden sie sagen: genauso oft.

GEKENNZEICHNET:
Teile diesen Artikel

Neue Beiträge

Tatort Hotel National

Dann herrschte «Nur noch Stille». Schuld sind die «Wölfe von Bern». Sie singen das Lied von «Hohenklingen», bis «Die drei Toten von Basel» auftreten: Alleine die Titel gewisser Krimis von…

Von Sacha Jacqueroud 2 Min. zum Lesen

Bric Brac – das mysteriöse Brockenhaus

Der Circus Monti ist wieder auf Tournée und entführt mit der neuen…

Von PD 1 Min. zum Lesen

Hier schiebt man die ganz ruhige Kugel

Älteren Leserinnen und Lesern werden beim Stichwort «Billard» vor allem die alten…

Von Thomas Bornhauser 4 Min. zum Lesen

Die schnellste Bernerin … … der Welt

Sie ist Weltmeisterin. Sie verwies eine starke Konkurrenz über 100 m Hürden…

Von Salome Guida 1 Min. zum Lesen

Nachbarschaft Bern: «Mein Herz will etwas machen, ich will mit Menschen zusammen sein.»

Im Frühjahr haben fünf Tandems von Nachbarschaft Bern im Podcast «Ding Dong…

Von PD 3 Min. zum Lesen