Weshalb die Abstimmung zum «Ausbau der Nationalstrassen» eng mit Bern West verknüpft ist

Lieber im Zug stehen oder im Stau sitzen?

Sacha Jacqueroud
Von Sacha Jacqueroud - Chefredaktor
Die Staustunden schaden der Umwelt und der Wirtschaft.

Foto: zvg/EE

Einfach erklärt

Am 24. November stimmt die Schweiz über einen möglichen Ausbau der Autobahn A1 ab. Das soll helfen, Staus zu verringern. Die Gegner befürchten dadurch noch mehr Verkehr und den Verlust von Kulturland.

Der Aufschrei im linken Lager war laut. Vor ziemlich genau einem Jahr überzeugte nämlich der Bümplizer Nationalrat Erich Hess (SVP) eine Mehrheit des Parlaments und den Bundesrat, dass man die Autobahn A1 weiter ausbauen müsse. Der Verkehrsclub Schweiz (VCS) hat das Referendum ergriffen. Grüne, SP und GLP unterstützen das. Was ist von den Argumenten zu halten? Und welche Auswirkungen hat diese Abstimmung vom 24. November auf Bern West?

«Das sind die Verkehrsinformationen von Radio SRF. Stockender Verkehr auf folgenden Abschnitten: A1 bei der Verzweigung Weyermannshaus, A1 zwischen Wankdorf und Schönbühl, A1 zwischen Schönbühl und Kirchberg (…).» Diese Meldung lässt sich nicht nur einem Tag im Jahr zuordnen, sondern aberdutzenden davon.

Finanzielle Einordnung

Wäre die A1 eine Vene, würde man schon lange einen Herzinfarkt diagnostizieren und operieren. Erich Hess (SVP) hat die Dia-gnose gestellt und die Operation verordnet, auf sechs Abschnitten soll die A1 ausgebaut werden. Zwei davon sind im Grossraum Bern: der Streckenabschnitt zwischen Wankdorf und Schönbühl sowie der zwischen Schönbühl und Kirchberg. VCS, Grüne, SP und GLP kontern mit dem Dreiklang das sei «übertrieben, überholt und überteuert». In der Tat sind die dafür benötigten 4,9 Mrd. Franken eine Menge Geld. Doch dieses Geld belastet die Steuerzahler nicht. Die Nationalstrassen finanzieren sich über Benzinsteuer und Vignette, also über den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF). Ein Fonds, von dem übrigens auch der öffentliche Verkehr profitiert. Die SBB ist indes durchaus auf die Steuergelder angewiesen. Nicht zuletzt, weil Streckenausbau-Beschlüsse aus dem Parlament immense Kosten verursachen, womit die Verschuldung der SBB auf über 11 Mrd. Franken angestiegen ist. Die Politiker mahnen entsprechend, den öffentlichen Verkehr nicht dem motorisierten Individualverkehr gegenüberzustellen. Die verschiedenen Mobilitäten seien keine Gegner, sondern ergänzten sich. In der Tat mag es wenig Sinn machen, von Bern nach Zürich mit dem Auto zu fahren. Die SBB ist weitaus schneller und effizienter.

Es gibt auch einen Bahnstau

Doch der Autobahnausbau birgt noch ein weiteres Problem. Er frisst wichtiges Kulturland. Dennoch ist der Bauernverband für ein Ja dazu. Präsident Markus Ritter wägt ab und erachtet eine funktionierende Mobilität für die Güter der Landwirtschaft als wichtiger, zumal der Verlust an Kulturland auf ein Minimum beschränkt sei. Staus seien gerade für die Tiertransporte ein viel
grösseres Problem. Rinder, Schweine oder Hühner lassen sich nun halt mal nicht mit der Bahn transportieren. Menschen dafür umso mehr. Staus kennt man auf der Schiene nicht, dafür Engpässe im Abteil. Wer zwischen Bern und Zürich mit der Bahn fährt, muss zu Stosszeiten damit rechnen, dass er keinen Sitzplatz mehr hat. Verspätungen und technische Probleme häufen sich, die Bahninfrastruktur stösst längst an ihre Grenzen. Die Züge noch länger zu machen gestaltet sich schwierig, zumal die Perrons nicht beliebig verlängert werden können. Deshalb warnte schon CEO Andreas Meyer im Jahr 2019, wenn erneute Ausbauwünsche der Politik an die Bahn gelangten: «Wir müssen eingestehen, dass wir manchmal hätten sagen sollen: Das geht nicht mehr.» Auch Benedikt Weibel sowie Vincent Ducrot, der aktuelle CEO, sprechen von Kapazitätsgrenzen. Würde man nur noch den Güterverkehr auf der Strasse belassen und den motorisierten Individualverkehr auf die Schiene beordern, das System würde kollabieren.

Eine Chance für Bern West

Die Politikerinnen und Politiker haben also recht. Es geht nicht gegeneinander, nur miteinander. Weshalb aber reicht der Status quo der Autobahnen nicht aus, sofern man mit «Mobility Pricing» für Entlastung sorgt und für den Arbeitsweg das Velo zum grossen Newcomer erklärt, respektive Velowege ausbaut? Letzteres hebt Thomas Binggeli, CEO von «Thömus», auf eine neue Ebene. Vor einem Jahr präsentierte er in der «Könizer Zeitung | Der Sensetaler» die Vision von Velo-Autobahnen. Doch auch hier kommt es zum Schulterschluss mit dem motorisierten Individualverkehr, denn aus Rücksicht auf das Kulturland seien solche Strecken entlang der Autobahnen am sinnvollsten. Ausbau hin oder her, Staus und dichtes Verkehrsaufkommen wird es auch nachher noch geben. Nicht zuletzt, wenn man an das Bevölkerungswachstum der Schweiz denkt. Der Ausbau fördere noch mehr Autoverkehr, warnen die Grünen. Ein Widerspruch? Das würde ja bedeuten, dass öV-Nutzende und Velofahrende wieder vermehrt auf das Auto umsteigen. Auf alle Fälle wieder eine Annahme, die kein Miteinander, sondern ein Gegeneinander hochstilisiert. Mitten in dieser Abwägung der Argumente entwickelt sich der Westen von Bern, mit Wohnungen, Begegnungszonen und Wirtschaftsräumen. Die Anbindung an die Autobahn ist ein grosser Vorteil, umso mehr, wenn der Verkehr wieder etwas zuverlässiger fliesst. Das ist auch gut für die Gemeinde Bern, wenn man an das Steuersubstrat all der Firmen im Westen von Bern denkt. Doch die Stadt Bern macht ihnen das Leben nicht nur einfach: EMCH Aufzüge hat unlängst in dieser Zeitung darauf hingewiesen, wie wichtig Parkplätze sind, damit man überhaupt die nötigen Arbeitskräfte findet, die vermehrt vom ländlichen Raum kommen. Die 0,1 Parkplätze pro Arbeitsstelle, welche die Stadt Bern als Gesetz verankert hat, verscheuchen manche Dienstleister, Steuersubstrat geht verloren. Selbst Mitarbeitende der SBB, die aus dem ländlichen Raum stammen, suchen im Wankdorf händeringend nach Parkplätzen.

An einem Herzinfarkt leidet also nicht nur das Strassennetz aufgrund seiner Engpässe, sondern die gesamte Mobilität. Ausbau braucht es bei den Velos und den Autos, bei der Bahn dürften die Kapazitätsgrenzen bald erreicht sein. Die Frage, die es am 24. November zu beantworten gilt, ist also etwas ganzheitlicher, als es der Wahlkampf uns bisher glauben machen wollte. Denn momentan lautet die Frage für viele Pendler: Lieber im Zug stehen oder im Stau sitzen?

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