«Ganz am Anfang freute ich mich schon fast über die Übelkeit», schaut Stella Sala zurück. «Ich dachte, das klingt wie bei meinen Bekannten nach ein paar Wochen wieder ab. Aber es hörte einfach nicht auf. Ich fühlte mich so allein.» Die 27-Jährige aus Rosshäusern hat kürzlich ihr zweites Kind geboren. Die Familienplanung ist nun abgeschlossen – denn so eine Schwangerschaft wie die letzten beiden will Sala nicht noch einmal durchstehen müssen. Die ständige Übelkeit begleitete sie beide Male bis kurz vor der Geburt. An den meisten Tagen erbrach sie sich mehrmals; monatelang knabberte sie an Crackern. Akupunktur, Osteopathie, Homöopathie, Ernährungsumstellung, ärztlich verschriebene Medikamente – nichts half.
Zwischen Ingwertee und Suizidgedanken
Fünf bis acht von zehn schwangeren Frauen in der Schweiz leiden gemäss der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe SGGG (gynécologie suisse) unter Übelkeit in der Frühschwangerschaft. Ingwertee, Akupressur-Armbänder oder das Vermeiden eines leeren Magens lindert bei den meisten von ihnen die Symptome, und nach 12 bis 16 Wochen ist es meist überstanden. Doch 0,3 bis 3 % der Schwangeren sind von Hyperemesis gravidarum (HG) betroffen. Anhaltendes Erbrechen, Dehydrierung und Gewichtsverlust von über 5 % des Körpergewichts sind Symptome davon. SGGG-Autoren beschreiben in ihrem Expertenbrief zum Thema Komplikationen, dass Suizidgedanken, starker Gewichtsverlust und die Erfüllung der Diagnosekriterien einer mit posttraumatischem Stresssyndrom assoziierten Depression bei von HG betroffenen Patientinnen häufig sind. Auch Komplikationen bei den ungeborenen Kindern wurden beobachtet – bis hin zu einem höheren Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen und Autismus. Co-Autor des Expertenbriefs ist Prof. Dr. med. Daniel Surbek. Er ist Chefarzt sowie geschäftsführender Co-Klinikdirektor der Universitätsklinik für Frauenheilkunde des Inselspitals Bern – und er sieht Handlungsbedarf: «Hyperemesis gravidarum ist ein sehr wichtiges, klinisch relevantes Problem für die betroffenen Frauen, denn bisher wurden die Ursachen zu wenig verstanden. Zudem sind die Behandlungsmöglichkeiten heute begrenzt, und die eventuelle Entwicklung neuer Behandlungsansätze – etwa Medikamente – wäre für die künftige Betreuung betroffener Frauen sehr wichtig.»
Im Elend – und niemand darf es wissen
Die starken Symptome belasten Betroffene – und mit ihnen ihr Umfeld: Je nach Schweregrad sind die Frauen kaum in der Lage, ihrer Arbeit nachzugehen oder sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Erschwerend kommt hinzu, dass die Symptome bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft einsetzen. «Dann ist es wichtig, umzudenken, und bereits früher als geplant eine Schwangerschaftskontrolle zu machen», sagt Rahel Frösch. Die Bümplizerin ist seit 2004 Hebamme. Die Frauen, die sie betreut, klagen häufig über Schwangerschaftsübelkeit – und manchmal wird schnell klar, dass wohl Hyperemesis gravidarum dahintersteckt. «Wenn die gängigen Tricks wie Akupunktur oder Aromatherapie kaum Linderung bringen, ist eines ganz wichtig: dass die Frau nicht auch noch arbeiten muss, und dass sie daheim mit den Kindern Unterstützung bekommt.» Dafür setze sie sich gemeinsam mit den jeweiligen Ärztinnen und Ärzten ein und erlebe dabei eine gute Zusammenarbeit. Das wichtigste sei, so die erfahrene Hebamme, dass die Betroffenen zu spüren bekommen: «Es ist real. Es ist schlimm. Und du hast im Moment genug zu tun mit dem.» Auch Frösch kennt die Forschungsergebnisse: «Wir werden sehen, was weiter herauskommt, und ob sich das in der Praxis bewährt. Ich bin aber froh, dass das Problem von verschiedenen Seiten her angepackt wird.»
Belastete Beziehung zum Baby
Ein Lichtblick ist ein Medikament, das seit Ende 2020 auf dem Markt ist und vielen Frauen Linderung bringt. Bei Stella Sala schlug es nicht an. Dazu kam: «Ich erhielt von allen Seiten Tipps, und alle meinen es ja lieb. Aber nachdem ich alles ausprobiert hatte und nichts nützte, zog ich mich mehr und mehr zurück.» Sie habe sich oft unverstanden gefühlt. Weil sie «das Kötzelige immer im Hals» hatte, konnte sie über Monate hinweg nie wirklich entspannen. «Ich wurde immer hässiger, hatte sowohl im Büro wie auch mit meinem Partner eine kurze Zündschnur», erinnert sie sich. Das Schlimmste aber war: «Ich konnte keine Beziehung zum Bébé aufbauen.» Manche Betroffene leiden zusätzlich zur erdrückenden Übelkeit und dem häufigen Erbrechen auch unter einem schlechten Gewissen – weil sie trotz ersehntem Wunschkind manchmal auf eine Fehlgeburt hoffen, damit das Leiden endlich ein Ende hat. «Dass ich das Bébé nicht mehr will, war bei mir nie der Fall. Aber es war bis gegen Ende Schwangerschaft eine Spannung zwischen der Vorfreude aufs Baby und dem Durchhalten», berichtet Sala. Auch sie kennt ein schlechtes Gewissen dem Baby gegenüber: «Ich hatte das Gefühl, dass ich es stresse. Die Zeit im Bauch wurde mit Gedanken wie ‹komm endlich raus› verseucht.» Hebamme Frösch erlebt häufig, dass «ihre Frauen» sich um die Bindung zu ihrem Kind sorgen und ein schlechtes Gewissen haben, weil sie mit ihrer Übelkeit so beschäftigt sind. Sie betont: «Ich versuche dann, ihnen den Druck zu nehmen. Sie sollen wissen, dass sie auf so vielen Ebenen mit ihrem Kind verbunden sind – die bewusste ist nur eine davon.» Leide eine Frau jedoch stark darunter und komme nicht aus der Spirale der Schuldgedanken heraus, dann rate sie ihr, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. «Aber grundsätzlich bin ich überzeugt: Frauen, ihr macht das schon gut. Das Kind holt sich, was es braucht.»
Schuld ist ein zu tiefer Hormonspiegel
Für Frauen, die erst in einigen Jahren Kinder haben werden, gibt es nun Hoffnung. Im vergangenen Dezember publizierten Forschende neue Erkenntnisse im renommierten Wissenschaftsmagazin «Nature». Auch Daniel Surbek kennt sie: «Sie sind äusserst spannend, denn bisher war die Ursache der Hyperemesis in der Schwangerschaft mehrheitlich unklar.» Die Studie habe nun einerseits den Zusammenhang zwischen hohen Spiegeln des Hormons GDF15 und einem erhöhten Risiko für Hyperemesis bestätigt. «Andererseits hat sie nachgewiesen, dass Frauen mit chronisch tiefen GDF15-Spiegeln vor der Schwangerschaft häufiger Hyperemesis in der Schwangerschaft entwickeln, da sie noch nicht auf höhere Spiegel ‹sensibilisiert› sind», fasst er die Kernpunkte der Studien zusammen. Zudem hätten sie nachgewiesen, dass dieses Hormon in der Schwangerschaft im Wesentlichen vom Fetus respektive der Plazenta stamme.
Forscherin verlor Baby wegen HG
Eine der Hauptmitwirkenden an der Studie ist Dr. Marlena S. Fejzo. Die Genetikerin und Forscherin am Center for Genetic Epidemiology (University of Southern California) hat ihre Forschungstätigkeit der Verbesserung der Gesundheit von Frauen gewidmet. Sie war massgeblich daran beteiligt, die ersten Gene auszumachen, die mit Schwangerschaftsübelkeit und -erbrechen sowie Hyperemesis gravidarum in Verbindung stehen. Sie engagiert sich aufgrund ihrer persönlichen, tragischen Geschichte: *«Ich hatte 1999 eine HG, die so schwer war, dass ich wochenlang nicht essen, trinken oder mich bewegen konnte, ohne mich heftig zu übergeben. Ich bekam sieben verschiedene Medikamente auf einmal, aber nichts half, und das Baby starb im zweiten Trimester. Mein Arzt dachte, ich würde die Symptome nur übertreiben, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich bin Genetikerin, studiere Frauengesundheit und wusste, dass er sich irrte. Also beschloss ich, mein Leben der Erforschung der Ursachen zu widmen.»
Ist Desensibilisierung möglich?
In den bald 25 Jahren ihrer Forschungsarbeit erbrachte Fejzo einen wichtigen Nachweis: «Ich verbrachte fast zehn Jahre damit, DNA-Proben von HG-Patientinnen und ihren nicht betroffenen Verwandten aus den ganzen USA zu sammeln», erzählt sie. Nach der Sequenzierung zeigte sich eine starke genetische Verbindung zwischen dem «Übelkeits- und Erbrechenshormon» GDF15 und Hyperemis gravidarum. «Patientinnen mit der Mutation in GDF15 hatten ein mehr als zehnfach erhöhtes Risiko für HG», so Fejzo. Allerdings waren längst nicht alle Frauen mit der Mutation betroffen. «Wir fanden Hinweise, dass sowohl die Gene der Mutter als auch die des Babys eine Rolle spielen können.» Nun galt es, den Mechanismus zur Erklärung dieser Ergebnisse zu ermitteln. Was Fejzo und das internationale Team herausfanden, sorgte insbesondere in medizinischen Kreisen für Aufsehen. Die Wissenschaftlerin arbeitet aktuell an einem Ansatz zur Desensibilisierung: «Wir möchten testen, ob die Erhöhung des GDF15-Spiegels vor der Schwangerschaft bei HG-Patientinnen hilft.» Bereits laufen mehrere Studien dazu, für weitere bemüht sich die Genetikerin um die Finanzierung. Von ihrer Arbeit profitieren dürften Frauen erst in fünf bis zehn Jahren – und zudem nur Frauen, die von HG und den Behandlungsmöglichkeiten schon vor einer Schwangerschaft wissen. Dennoch sieht es Fejzo optimistisch: «Ich denke, jetzt da wir wissen, dass eine Überempfindlichkeit gegen den schnellen Anstieg von GDF15 in der Frühschwangerschaft die wahrscheinlichste Ursache für HG ist, werden sich die Dinge nun schneller entwickeln.»
*Die Aussagen von Dr. Marlena S. Fejzo wurden aus dem Englischen übersetzt.
Vernachlässigte Forschung
Im Zusammenhang mit Gendermedizin – geschlechterspezifischer Medizin – kommt schnell die Frage auf: Wäre Hyperemesis gravidarum längst behandelbar, wenn sie Männer betreffen würde? Dr. Marlena S. Fejzo schliesst Annahmen in diese Richtung nicht aus: «Es gibt die Tendenz, Frauenprobleme zu verharmlosen oder zu ignorieren. Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft sind weit verbreitet – man denkt, dass man einfach damit leben muss.» Selbst bei der schweren Form wie HG, die sogar lebensbedrohlich sein kann, sei es für Fejzo schwierig gewesen, die Forschung voranzutreiben. Sie sieht dafür mehrere Gründe, unter anderem auch den Contergan-Skandal: Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre sorgte das Medikament, das unter anderem gegen Schwangerschaftsübelkeit eingesetzt wurde, für bis zu 10‚000 geschädigte Neugeborene mit Fehlbildungen wie fehlenden Gliedmassen. Seitdem seien sowohl Pharmaunternehmen wie auch Mediziner äusserst vorsichtig bei der Entwicklung und dem Verschreiben von Medikamenten in der Schwangerschaft. Weitere Gründe seien die Klagekultur in den USA sowie der Irrglaube, dass HG psychisch bedingt ist. Dass verschiedene Leiden unterschiedlich gewichtet werden, erlebte sie insbesondere bei der Finanzierung von Studien. So habe sie einmal Forschungsgelder für eine Studie über HG beantragt. Kaum sei ihr Antrag abgelehnt worden, wurde eine Studie, die einen ähnlichen Ansatz bei Erektionsstörungen anwendete, finanziert.