Zufällig getroffen

«Das Tscharni ist eine Welt für sich»

Thomas Bornhauser
Anita Burri mit Luisa.

Foto: BO

Einfach erklärt
Diesmal geht es bei «zufällig getroffen» um zwei Frauen, die seit vielen Jahren im Tscharni wohnen. Beim Gespräch mit dabei ist auch eine Enkelin.  
Gegenüber an einem Tisch im Migros-Restaurant Bethlehem sitzen die beiden Freundinnen Anita Burri und Annemarie Lazzaretti, erstere mit ihrer Enkelin Luisa (8). Anita Burri wohnt seit fast 40 Jahren im Tscharni, Annemarie Lazzaretti… seit 60 Jahren.

Bevor wir zum eigentlichen Gespräch kommen, erzählt uns Anita Burri eine lustige Geschichte. Kürzlich hat ihre Enkelin vor der Migros Bethlehem ein Gebiss gefunden. In ein Papiertaschentuch eingewickelt wurde es am Kundendienst abgegeben. Offenbar wurde es inzwischen abgeholt…

 

Anita Burri, vor mir liegt ein leeres Blatt. Worüber wollen wir reden? Wo drückt der Schuh?

(Beide Frauen sind gleicher Meinung, Anita Burri äussert sich) Über die steigenden Preise. Ständig und überall. 

Wie liesse sich das ändern?

Gute Frage! Eigentlich wäre die Politik gefordert, aber da habe ich längst die Hoffnung aufgegeben. Stellen Sie sich vor, Sie haben keine Pension, nur die AHV. Wie wollen Sie da überleben? Klar, man kann Ergänzungsleistungen beantragen, aber ist das Sinn der Sache? In einem der reichsten Länder der Welt? Ganz abgesehen davon: Viele, vor allem ältere Leute, genieren sich, nach diesen EL zu fragen. Zum Glück gibt es im Bereich der Lebensmittel die Discounter. Die sorgen dafür, dass Coop und Migros unter Druck kommen, was uns Konsumentinnen nützt. Und auch freut.

 Ein anderes Feld sind die Krankenkassenprämien…

(Annemarie Lazzaretti meldet sich zu Wort) Stellen Sie sich vor, mein Mann und ich bezahlen weit über 1000 Franken pro Monat an Krankenkassenprämien. Was ich in diesem Zusammenhang eine Unverschämtheit finde: Dass Leute, die wegen eines Bobos den Notfall beanspruchen, keinen happigen Zuschlag bezahlen müssen. Wie will man mit derartigen Machenschaften die Kosten für das Gesundheitswesen in den Griff bekommen? Ich schliesse mich Anita Burri an: Die Politik schaut zu, unternimmt nichts. Sie schaut nur, dass die Lobbyisten im Bundeshaus ihre Arbeit gut machen, und dass Novartis, Inselspital, KPT & Co. auf ihre Rechnung kommen, die man uns Patienten dann präsentiert. Aber den ganzen Schlamassel hat uns Frau Dreifuss vor 30 Jahren eingebrockt, mit ihrer Abstimmung zur Krankenversicherung KVG, als sie sagte, «das sei der einzig richtige Weg» für eine vernünftige Entwicklung im Gesundheitswesen.

 Reden wir vom inzwischen nicht mehr ganz neuen Quartier im Westen von Bern, das mit dem Bau des Westside vor fast 20 Jahren begonnen hat. Wie erleben Sie es?

(Jetzt wieder Anita Burri) Ach, wissen Sie, für uns ist der Westen Berns seit Jahrzehnten das Tscharni. Hier leben wir. Aber wenn Sie schon fragen: Es hiess im Vorfeld der Überbauungen immer, es seien auch Wohnungen mit sehr günstigen Mietpreisen vorgesehen. Ich frage Sie: Wo sind diese jetzt? Ich werde es Ihnen sagen: im Tscharni! Hier gibt es zum Glück noch bezahlbaren Wohnraum für Leute wie uns. Und zum Westside: Im Moment, da wir schon miteinander sprechen, ist das Melectronics der Migros geschlossen. Nirgends kann man ein entsprechendes Gerät kaufen, und muss zum Interdiscount an die Kasparstrasse. Bleibt zu hoffen, dass Coop diese Filiale weiterbetreiben wird, sonst können wir dann wegen jeder Druckerpatrone in die Stadt. Und nein nicht alle kaufen online ein.

Und mit der Auswahl im Bümpliz-Bethlehem?

Da bin ich durchaus zufrieden, wobei…

Wobei?

Ich vermisse speziell im Westside Geschäfte, die auch den Portemonnaies von Kundinnen und Kunden entgegenkommen, die nicht auf Luxuslabels aus sind. Nun gut, es gibt ja H&M, das ist aber eher die Ausnahme. Was auch im Bümpliz-Bethlehem fehlt, das sind Geschäfte wie es ABM oder EPA waren, wo man einfach «e Chlungele Wuule» hat kaufen können. Otto’s ist nicht schlecht, aber dort gibt es meistens bloss Multipacks. Die Brocki der Heilsarmee ist eine gute Adresse und dann meine Coiffeuse, «Glanz und Gloria».

(Wir werden von Luisa unterbrochen)

Ig weiss, wieviel 4 × 2 sy! 4.

(Wir fragen nach, ob sie sicher ist, sie korrigiert sich.)

Nei, 8. Und 3 × 3 sy 9, 10 × 10 sy 100.

Nebst den günstigen Mieten, die Sie angesprochen haben: Was spricht sonst fürs Tscharnergut?

(Energisch) Däm seit me Tscharni! Es stimmt hier alles, wir sind in einer Welt für sich. Alles, was es zum Leben braucht, findet sich im Tscharni. Und hier müssen die Kinder nicht einmal über eine Strasse, wenn sie in den Kindergarten oder in die Schule gehen. Wo sonst gibt es das?

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