Prävention von Gewalt an den Kleinsten

Wehrlose Babies, gefährliche Überforderung

Salome Guida
Von Salome Guida - Redaktorin
Das Julie-von-Jenner-Haus mit der Notfallaufnahme.

Foto: zvg/Insel Gruppe AG

Einfach erklärt
Wenn Eltern überfordert sind, verletzen sie manchmal ihre Kinder. Bei Babies und Kleinkindern kann das schnell gefährlich werden. Im Inselspital will man früh helfen. Damit Gewalt gestoppt wird, bevor sie passiert.
Kindesmisshandlungen betreffen meist Babies und Kleinkinder. Frühe Unterstützung von Familien kann Gewalt verhindern – das Inselspital organisierte deshalb einen Fachaustausch.

Einblutungen in Hirn und Augen-Netzhaut, angebrochene Rippen, eine Beule am Hinterkopf und Verbrennungsspuren am Hals: Der Patient in der Notaufnahme wurde nicht etwa Opfer einer Schlägerei, er erlitt auch keinen Autounfall. Er ist nämlich erst zwei Monate alt, kann die Ursachen nicht selbst erklären – doch er sei, so die Eltern, vom Sofa gefallen, zudem sei der heisse Milchschoppen ausgelaufen.

Vier Todesfälle im 2024

Fälle wie dieser begegnen den Kinderärztinnen und Kinderärzten in der Schweiz häufiger als man denken würde. «Die Statistik 2024 aus 19 Kinderschutzgruppen von Schweizer Kinderspitälern zeigt: Jedes fünfte Kind, das körperlicher Gewalt ausgesetzt ist, ist noch kein Jahr alt», weiss Mischa Oesch. Die leitende Psychologin der Kinderschutzgruppe des Inselspitals organisierte Ende Juni einen Fachaustausch, um Kindesmisshandlungen im Babyalter präventiv etwas entgegensetzen zu können. «Was brauchen die Eltern?», fragte sie in die Runde der anwesenden Kinderärztinnen, KESB-Behördenmitgliedern, Hebammen, Polizistinnen und Mitarbeitenden vom Jugendamt. Im 2024 starben in der Schweiz drei Kinder unter einjährig an den Folgen körperlicher Gewalt, eines davon war im Inselspital behandelt worden. Ein viertes Kind von weniger als zwei Jahren starb an den Folgen schwerer Vernachlässigung. Insgesamt haben die 19 Kinderschutzgruppen von Schweizer Kinderspitälern über 2000 misshandelte Kinder registriert.

Auch Papas sind überfordert

Gerade Schütteltraumata bei Neugeborenen können schnell lebenslange Behinderungen zur Folge haben oder gar tödlich enden. Die grosse Mehrheit der Täter bei dieser Art von Verletzungen sind Väter. «Bei Vätern weiss man, dass sie ihre Überforderung häufig nicht zur Sprache bringen. Auf Hilflosigkeit wird stattdessen mit Ärger und Wut oder aber mit Flucht reagiert. Auch eine allfällige postpartale Depression bei Vätern – beinahe jeder sechste bis achte Vater ist gemäss Studien davon betroffen – zeigt sich bei Vätern eher durch erhöhte Reizbarkeit und Impulsivität», so Remo Ryser. Der Väterberater und Coach ist seit sieben Jahren bei der Mütter- und Väterberatung Kanton Bern tätig. Jedoch, gibt er in seinem Referat am Anlass zu bedenken, fühlen sich viele Väter von Hilfsangeboten nicht angesprochen. Es würden auf Flyern nur Mütter gezeigt oder die Öffnungszeiten berücksichtigten berufstätige Väter und Mütter nicht. Zudem landeten die Informationen meist auch zuerst einmal bei den Mamas. Die Konsequenz: «Väter nehmen sich als sekundär gemeint wahr und werden seltener von sich aus aktiv.» Doch bekunde oft auch der Vater Mühe mit seiner neuen Rolle. «Das traditionelle Männlichkeitsbild besagt jedoch, dass Männer alles im Griff haben.» Selbst Fachpersonen agierten oft mit einem sogenannten «gender bias» – einer unbewussten Voreingenommenheit aufgrund von Geschlechterrollen. Man frage nach einer Geburt eher die Mutter, wie es ihr gehe. Ryser setzt sich deshalb dafür ein, dass Väter aktiver angesprochen und miteinbezogen werden.

Die Muttertät

Nicht mehr nur Frau, noch nicht Mutter: «Der Transformationsprozess einer Frau zur Mutter kann viel Schönes mit sich bringen, aber auch die psychische Gesundheit belasten.» Hebamme Lena Sutter ist fachführende Pflege- und Hebammenexpertin in der Frauenklinik des Inselspitals. In ihrem Referat erklärt sie verschiedene Phasen, die in der «Muttertät» – ein Begriff zusammengesetzt aus «Mutter» und «Pubertät» – vorkomen. «Oft mangelt es an realistischen Informationen, was nach der Geburt auf die Frauen zukommt», sagt Sutter. «Viele Frauen meinen, dass sie doch jetzt glücklich sein müssten – und können kaum mit Gefühlen der Isolation, mit Überforderung und Ängsten umgehen.» Auch Stress, ein instabiles Umfeld oder finanzielle Sorgen können die psychische Gesundheit belasten. Sie möchte deshalb so früh wie möglich ansetzen. Seit 2021 bietet die Frauenklinik eine psychosomatische Sprechstunde für Schwangere und Mütter an. Dies mit dem Ziel der Früherkennung, um die Betreuung von belasteten Familien zu verbessern. Was mit 1,3 monatlichen Konsultationen anfing, zeigt vier Jahre später mit 27 Gesprächen pro Monat eine grosse Nachfrage.

Besser früh intervenieren

Ein Grossteil der Eltern kennt Gefühle und Situationen der Überforderung. Nur ein kleiner Teil von ihnen wird so gewalttätig, dass die Kinder anschliessend in der Notaufnahme landen. Doch jeder Fall von misshandelten Kindern ist einer zu viel. Vermuten die Behandelnden, dass Gewalt die Ursache von Verletzungen ist – Eltern schieben in solchen Fällen meist Unfälle vor, weil sie die ausgeübte Gewalt verdrängen, oder aus Schuld- und Schamgefühlen – kommt die Kinderschutzgruppe zum Zug. Sie besteht aus Fachleuten der Psychologie, Sozialarbeit und Pädiatrie. 40 % der betroffenen Kinder sind jünger als 6 Jahre, 33 % sind unter 4-jährig und 20 % jünger als 12 Monate. Mischa Oesch warnt: «Im Frühbereich wartet man oft zu lange, bis man einschreitet, zudem werden Babies nicht so oft von Aussenstehenden gesehen, im Gegensatz zu Kindern im Schulalter.» Häufig sage man bei erkennbaren Problemen: «Das muss sich noch einpendeln, es ist noch früh.» Dabei sollte man manchmal früher intervenieren. Die Risikoabwägung sei nicht immer einfach, und hinterher sei man immer schlauer. Doch sie betont: «Eine Gefährdungsmeldung an die KESB ist manchmal lebensnotwendig fürs Kind.» Der Fachaustausch soll sensibilisieren, die veschiedenen Fachleute vernetzen und neue Präventionsansätze hervorbringen. Denn: «Je früher man Familiensysteme unterstützt, umso weniger Massnahmen sind später nötig.»

Hilfe für Eltern
niudad.ch | geburteinesvaters.ch | postpartale-depression.ch | tinyurl.com/sprechstundefrauenklinik | mvb-be.ch | elternnotruf.ch: 0848 35 45 55

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