Feuilleton

Mit Gipsbein auf den Roller

Thomas Bornhauser
Noch haben Anna und Jan nicht Hand angelegt.

Foto: BO

Einfach erklärt
Der Autor musste seinen Fuss operieren lassen. Danach muss er den Fuss zehn Wochen lang ruhig halten. Er trägt auch einen Gips. Der Autor erinnert sich an einen Unfall von vor 50 Jahren. 
«Das müssen wir operieren», sagt der mir empfohlene Fusschirurg im Sinne einer Zweit-, Dritt- resp. Viertmeinung emotionslos, keine fünf Sekunden nach dem Betrachten meines Fusses. Zuvor habe ich über ein Jahr (!) lang unser Gesundheitswesen durch Widersprüche bei verschiedenen Ärzten samt MRT und Röntgen mit Tausenden von Franken belastet, ohne dass die Leute den Grund meines Problems erkannt hätten. Möglicherweise, weil sie mir nicht zugehört haben und nur ihre medizinische «idée fixe» aus der Fachliteratur im Kopf hatten.

Nachdem er mir die frohe Botschaft eröffnet hat, folgen die Einschränkungen: insgesamt zehn Wochen Gips ohne grosse Belastung, Badeferien annullieren, Autofahren tabu. «Aber mit dem Roller, da darf ich doch?» Der Mann hat Haltung, wirklich. Ohne eine Augenbraue hochzuziehen, winkt er ab. Zuhause verkünde ich stolz, dass ich «längere Zeit» in unserer Ferienwohnung im Val d’Anniviers verbringen würde, «weil alles auf einem Boden». Einkäufe mit Rucksack. Pas de problème. Notfalls würde ich auch mit dem öV anreisen. Frau und Tochter, beides Pflegefachfrauen, wundern sich, schütteln bloss ihre Köpfe. «Typisch Pa, kei Ahnig.» Ich sollte tatsächlich noch in der Realität ankommen.

Ich erhalte den Operationstermin genannt, in einer Woche bereits. Geht nicht, da habe ich den Journalisten Matthias Mast und einen Bekannten in Vercorin zum Herrenweekend eingeladen, beides Geniesser, wie ich. Da kommt kein Fuss dazwischen. Also halt in zwei Wochen. Ich gehe im Kopfkino die zehn Wochen nach dem Eingriff durch. Unschön, deshalb sage ich die OP in einer Einbahnkommunikation kurzerhand ab. Selbst ist der Mann. Zuhause die Götterdämmerung meiner Frauen. Ohne Interpretationsspielraum. Sodom und Gomorra. Ich gebe mich selbstkritisch, frage beim Spezialisten reumütig nach, ob es vielleicht möglich wäre, auf meinen Entscheid zurückzukommen. Er macht es für den Stürmi möglich.

Auf dem Operationstisch mit einer Spinalanästhesie liegend, höre ich jemanden einen Spruch zum Besten geben: «Wenn ich mit jemand Kompetentem sprechen will, schaue ich immer in den Spiegel.» Ein Lachen huscht über mein Gesicht. Könnte von Donald T. sein.

Obwohl nur allgemein versichert, komme ich in ein Zweierzimmer, zuerst mit einem Postautofahrer, anschliessend mit einem Spitzensportler, der sich einen Bänderriss zugezogen hat und seinem Team für mehrere Monate fehlen wird. Beides hochsympathische Zeitgenossen. Tags darauf muss ich zum Gipsmeister. Ich entscheide mich für einen Gips mit Fussspuren eines Bären, damit unsere Enkelin Anna (8) als Künstlerin amten kann. Ihr Bruder Jan (11) ebenso. Kurz darauf geht es per Rollstuhl zum Röntgen. Als das Prozedere beendet ist, teilt man der Station mit, dass sie «den Fuss» abholen können.

Es geht zackzack. 48 Stunden nach Eintritt steht das Auto meiner Frau vor der Türe, zu der sie mich im Rollstuhl stösst. Na und? Papst Franziskus fährt auch mit dieser Art von Heiligem Stuhl – allerdings ist er 14 Jahre älter als ich.

Zuhause ist alles anders. Allein schon die Wendeltreppe lässt mich schwindlig werden. Und jetzt erst wird mir bewusst, wie realitätsfremd ich manchmal bin. Rückblende: Vor genau 50 Jahren habe ich mir beim Schlittschüehle rechts beide Knöchel, das Schien- und Wadenbein gebrochen, sämtliche Bänder gerissen. Das Geräusch habe ich heute noch im Ohr, als ob man zwei Pouletknochen abdrehen würde. Fazit: Der Fuss ist um 180 Grad rückwärts gerichtet. Es folgt eine fünf Stunden dauernde Operation, danach vier Wochen Liege- und acht Wochen Gehgips. Mit Letzterem bin ich während drei Wochen im Fernen Osten unterwegs, und auch den Liegegips strapaziere ich übermässig, ziehe damit wie ein junges Reh in der Gegend rum, gehe auch ins Büro. Was soll 2024 also anders sein? Deshalb die Idee mit dem Roller und Vercorin. 

Wilhelm Busch soll einmal festgestellt haben, dass es erstens anders und zweitens als man denkt kommen kann. Wie wahr. Die Fernbedienung des TV liegengelassen? Ein halber Tagesausflug. Die Wendeltreppe mit den Krücken? Chasch vergässe, für was het mer es Füdle? Geht doch. Das Duschen wäre ohne Hilfe unmöglich. Auf dem wasserdichten Duschsack steht geschrieben, wo er hergestellt wurde. In Wolfratshausen. Ig muess luut uselache. Dort spielt nämlich auch die Ulk-Krimiserie «Hubert ohne Staller». Ich stelle mir gerade vor, wie die Herren Girwidz und Riedl mit dem Sack umgehen würden.

Und wenn wir schon beim TV sind: Während der ersten Nacht im eigenen Bett (alb)träumt es mir, dass Sven Epiney bei mir vorbeischaut, für die Sendung «Mis Dihei». Süsch no öppis?

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